Monthly Archives November 2014

Europa

Die Uhr! Mit einem Mal sah ich sie überall, diesen eckigen, gute hundert Jahre alten Uhrsäulen und Uhrtürmchen, sah sie vor Rathäusern, sah sie auf den Märkten, die ich ebenfalls überall fand – in Städten und Städtchen als Rynek, als Ring. Erinnerte mich an alte Photographien aus Berlin, Potsdamer Platz – die Uhr. Gewiss, von Ostmitteleuropa vor den Kriegen hatte ich vielfach gelesen und es bewundert: ein multikultureller Raum, sprachliche, ethnische und religiöse Vielschichtigkeit, niemals einfach, aber gelebt. Vor den Uhren spürte ich dieses zerstörte, aber nicht ganz verschwundene Europa, begriff körperlich-räumlich, was für Ideen und Möglichkeiten es für heute
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Globalisierung

Was „Globalisierung“ ist, könnten Esther, Jahrgang 1996, und ihre beste Freundin Pawani, deren Familie aus Pakistan stammt, vielleicht nicht sagen. Doch die Welt der ständigen Bewegung, in der Menschen stärker um den Globus reisen als Vögel und Waren, irritiert sie. Ihre Reaktion: „Wir suchten Migrationsleugner. Lange hatten wir uns um Kriterien bemüht. Mindestdauer der geleugneten Migration: sechs Monate. Unglückliches Ende. Alles, was mit Urlaub zu tun hatte, schied von vornherein aus. Gewinnsucht als Motiv war uns am liebsten, hier wurde am besten gelogen. Liebesmigration, Mischehen und internationale Patchworkfamilien interessierten uns ebenfalls, auch in diesen Fällen stritten die Beteiligten die Migrationsbewegung
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Dora Rusciano: „Globalisierung“ und „Europa“

Sehr geehrte Frau Draesner, ich heiße Dora und komme aus Italien. Ihr Roman hat mir sehr gut gefallen und die Idee, dem Buch ein neues Leben in einem anderen Medium zu geben. Ein Medium, das auch sehr geeignet für eine übernationale Diskussion ist, was ich für sehr wichtig halte. Ganz in diesem Sinne, möchte ich hiermit um zwei neue Einträge für das „Lexikon der Reisenden Wörter“ bitten, und zwar „Globalisierung“ und „Europa“. Vielen Dank! (c) Dora Rusciano, 2014 —————————- In der Rubrik “Selbst-Erzählen” veröffentlichen wir Texte von Leserinnen und Lesern.
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Jörg Meyer: reiz[ende]worte 9

heimat hab ich, will ich nicht, verdächtigen begriff aus blut, das floss auf eben diesen boden, der – dadurch – verlorener ist. heimat zu dichten, widerspricht der dichtung, diesem auf gepackten wortkoffern sitzen, sie ausbrüten wie ein ungelegtes ei, weil unsereiner im stall, auf dem stroh liegend, nur koffer schichtet, fast leere. doch „meine stadt schmeckt salzig, hier sind wir das neueste vom tage“, am quai, wo wir winken denen, die dort umkommen um anzukommen. Zum Blogs des Autors geht es hier . (c) Jörg Meyer, 2014 —————————- In der Rubrik “Selbst-Erzählen” veröffentlichen wir Texte von Lesern.
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Rita Stenzel: Schlesische Wurzeln

Habe über die Lesung hier in Kiel erfahren… Mein Mann – Jahrg. 31 aus Oels und ich – Jahrg. 36 vom „Zutaberg“ (Zobten) werden nicht teilnehmen – wir sind beide nun etwas von allem entfernt – bzw. meint man, damit in etwa abgeschlossen zu haben … ist alles Geschichte – doch die Sehnsucht wird immer bleiben … (c) Rita Stenzel, 2014 —————————- In der Rubrik “Selbst-Erzählen” veröffentlichen wir Texte von Lesern.
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wulkan

wulkan (lwiw – wrocław – berlin)   weißt du wie es ist wenn man schleudert (das fallende laub) fragte er mit weicher polnischer ruhe: wulkan. die lage der kanten das porzellan sagte er alle gegenstände des hauses erinnerten an eigene bedürfnisse: fotos von kindstaufen eine blau träumende kommode mit stolzierendem emaillepfau der wein vom hochzeitsjahr der anderen. noch warm ihre deutschen lippen noch auf den gläsern der spüle. wir schämten uns nicht des nehmens des sehens wohl. so kamen wir nicht an. wulkan. lebensbild hergebracht. gemälde aller schatten an der wand schichten aus mensch gestapelt fruchtbar heiß, erstarrt. im eigenen
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Essen (5)

Boris erzählt, wie Boris und Simone versuchen, sich miteinander zu unterhalten Gekreuzte Holzspeere, ein wagenradgroßer Teller mit Fladen zum Selberrollen. Ich war stolz darauf, gleich zu Anfang festgelegt zu haben, dass ich einlud. Sie sagte »nice of you«, als wäre sie noch im Institut, und bestellte einen Aperol. Ich hatte ihr nach dem Vortrag geschrieben, eine kleine Ewigkeit an den paar Zeilen gefeilt, nicht zu nah, zu aufdringlich, zu distanziert, wie machte ich ihr deutlich, dass es mir um sie ging, nicht um ihren Vater und nicht um die Affenforschung, nein, dass sie, Simone, es war, die mich lockte, die
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Essen (4)

Hannes, angekommen in Bayern, geht in den Wald Anfang August hackte er bei einer Witwe im Dorf zwei Stunden Holz, im Gegenzug lieh sie ihm ihr Fahrrad für den Rest des Tages. So behände er konnte, fuhr er damit die Hügel um Wilfing auf und ab. Seit fast einem Jahr lebte er hier. Er hatte sieben Kilo zugenommen. Er war neuerlich bei Kräften. Die äußere Armut hätte er ertragen. Die innere setzte ihm zu. Noch immer hingen sie von fremder Hilfe ab. Von Julius und Feli. Jeder Tag dieses Lebens demütigte ihn. Auf der Rückfahrt ging er in den Biergarten
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Essen (3)

Halka erzählt aus Wrocław Die neue Person, die auf der Bahnfahrt geschlüpft war, wuchs und wuchs. Sagt wer? Still und beharrlich? Schubweise? Ständig, sage ich der Erinnerung. Leszek kam kaum mehr aus der Universität zurück; er schien sich wohlzufühlen, jedenfalls besser als die Jahre zuvor. Grazyna hingegen verließ die Wohnung immer seltener, kochte und buk immer mehr. Jeden dritten Tag tischte sie nun selbstgemachte Piroggen auf, Weißkäse konnte man um die Ecke in einem der ersten kleinen Läden kaufen, Pilze, die es kaum oder nur getrocknet gab, ersetzte sie durch Zwiebeln und Kraut. Je länger wir blieben, umso ostpolnischer wurde
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Essen (2)

Eustachius erinnert sich Zuweilen kam mein gesamtes Leben mir so vor: einen engen, nur einen Mensch breiten Weg war ich gegangen. Die heimliche Melodie meines Blutes, der Puls jedes Muskels, jedes Nervs: »Nimm dich in acht!« Vor Emil, der mir an der Tür auflauerte und mich nicht mehr losließ, vor Lehrern und Vater, die schlugen, vor Soldaten, die marschierten, vor Feinden, die unsere Wohnung wegnahmen, die Mutti bedrohten, auf Vati zielten, vor Volksgenossen, die mich diesem Feind in die Schusslinie stellen wollten, vor Jungen, die mir den Brotkanten stahlen, den ich zuvor selbst gestohlen hatte, vor Mädchen wie jenem, das
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