Archives for Eustachius

Essen (2)

Eustachius erinnert sich Zuweilen kam mein gesamtes Leben mir so vor: einen engen, nur einen Mensch breiten Weg war ich gegangen. Die heimliche Melodie meines Blutes, der Puls jedes Muskels, jedes Nervs: »Nimm dich in acht!« Vor Emil, der mir an der Tür auflauerte und mich nicht mehr losließ, vor Lehrern und Vater, die schlugen, vor Soldaten, die marschierten, vor Feinden, die unsere Wohnung wegnahmen, die Mutti bedrohten, auf Vati zielten, vor Volksgenossen, die mich diesem Feind in die Schusslinie stellen wollten, vor Jungen, die mir den Brotkanten stahlen, den ich zuvor selbst gestohlen hatte, vor Mädchen wie jenem, das
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Essen (1)

Simone und die Träume aus einem anderen Leben Kelche, Schalen, Vasen, Gläser – ein flimmernder, herrischer See. Sonnenstrahlen fallen durch die hohen Fenster in die Halle, fangen sich in dem übereinandergestapelten Kristall, das die Luft in blendenden Dunst verwandelt. Draußen dämmert es, Amseln zwitschern. Ein Junge hat einen Flügel der hohen Holztür geöffnet, steht erstarrt auf der Schwelle. Die Kappen seiner Schuhe fehlen, rechts schaut ein grober grauschwarzer Strumpf heraus; die Haut über den Schäften ist nackt und bläulich vor Kälte. Auf das Verbindungsstück zwischen den Hosenträgern seiner Lederhose ist eine eingerissene Edelweißblüte genäht. Ich kenne ihn so gut, dass
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Wolf und Fuchs (6)

Hannes, nach 25 Jahren in München Wenn man wartet und wartet, sagte ich zu Eustachius, sitzt man irgendwann einfach nur da und nimmt wahr. Das Traumglucksen der Hühner, sagte ich, um ihm nicht vom Krieg zu erzählen, während ich an den Krieg dachte, das Fiepen der Küken, die nicht schlafen, das vereinzelte Gurren von Tauben. Hin und wieder spielt der Wind in ein paar Ästen. Ich erzählte von einer Nacht in Großmutters Stall auf dem Hof bei Netsche. Ich erzählte eine Geschichte vom Kommen, Liegen und Gehen. Draußen quietscht ein Tor, sagte ich zu Eustachius. Man wartet auf den Fuchs,
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Hannes erinnert sich (1)

Für ihn, den Kranken, gab es einen neuen Arzt in Breslau, Dr. Winsch. Er sagte, Emils linke Gehirnhälfte sei defizitär, der Klumpfuß müsse als Symptom einer größeren Schwäche des Erbgutes gelten. Diese Schwäche greife in Emil um sich. Die Behinderung werde zunehmen, Jahr um Jahr, was sage er, Monat um Monat: bis das Kind nicht einmal mehr humpeln können werde, nicht mehr artikulieren, nur sabbern, einkoten, schreien. Dr. Winsch hatte leise gesprochen, mit sachlichem Blick auf Emil. Unvermittelt wurde seine Stimme forscher, nein, froher: Man müsse untersuchen, wie das geschehe! Was als lebenswert gelte, was nicht. Ob wir ein weiteres
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Zugfahren (2)

Lilly erinnert sich Drechslers hatten uns ein Stück mit ihrem Holzvergaser mitgenommen, drei Kilo Holz ersetzten einen Liter Benzin, statt zu fallen, schienen die Flocken auf der Stelle zu schweben, so gleichförmig, dass der Wagen ins Endlose rollte dann torkelten sie zur Erde, Motorschaden, die letzten fünf sechs Kilometer waren wir gelaufen, die dicken, verschneiten Bäume, der Puusch, minus 20 Grad, wer konnte das erschleppen hohe Tannen und Buchen, Untergehölz, Emil humpelte schrecklich trotz des Maßstiefels aus Prag, Sonderanfertigung aus der Zeit vor dem Krieg, auf der anderen Seite glich ein ebenso maßgefertigter weibisch hoher Schuh den Unterschied der Beinlängen
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