Kelche, Schalen, Vasen, Gläser – ein flimmernder, herrischer See. Sonnenstrahlen fallen durch die hohen Fenster in die Halle, fangen sich in dem übereinandergestapelten Kristall, das die Luft in blendenden Dunst verwandelt. Draußen dämmert es, Amseln zwitschern. Ein Junge hat einen Flügel der hohen Holztür geöffnet, steht erstarrt auf der Schwelle. Die Kappen seiner Schuhe fehlen, rechts schaut ein grober grauschwarzer Strumpf heraus; die Haut über den Schäften ist nackt und bläulich vor Kälte. Auf das Verbindungsstück zwischen den Hosenträgern seiner Lederhose ist eine eingerissene Edelweißblüte genäht. Ich kenne ihn so gut, dass ich von dem hinter der Blüte verborgenen Täschchen weiß, in dem er drei Reichsmark und einen kleinen selbstgeschnitzten Stempel in Form eines Schweins versteckt.
Es ist die Turnhalle der größten Schule der Stadt. Sprossenwände, Rutschstangen und Ringe, sinnlos unter der Decke festgezurrt. Das Gebäude ist langgestreckt, und es dauert, bis er begreift, was er sieht: Bis in die hintersten Ecken hat man es mit Tischen gefüllt, kleinen, großen, hohen, niedrigeren, Tischen aus reich beschnitztem Kirschholz, mit polierten Eichenplatten, manche nackt und roh, andere mit Leintüchern bedeckt. Kristallschalen, Karaffen, Sektkelche, Vasen jeder Art, facettierte Löwenköpfe, sogar ein Paar erhobener Bärenpranken stehen darauf – der gefrorene Reichtum der Stadt, hart und schön.
Zögernd streckt der Junge den linken Arm nach einem der Glaskelche. Das Knarren der Tür in seinem Rücken erschreckt auch mich. Es war der Wind. Die hereingedrückte Luft riecht nach Schnee.
Er ist vierzehn und ein paar Monate. Er sieht älter aus. Er hat Hunger. Ein Schwan treibt über ausgewaschenes Leinen, Glashunde geben Pfötchen, eine dunkelrote Bache schnüffelt neben weißroten Frischlingen, fünf blaue mundgeblasene Engel schlafen an eine überirdische Christbaumspitze gelehnt, kunstvoll geschliffen, böhmisch, mährisch, unwiederbringlich, alt.
Bot man den erwarteten Russen an, was man besaß, als nütze das Opfer: »Nehmt, dafür lasst uns in Ruhe?« Oder hieß die Geste: »Uns erschlagt ihr sowieso, lasst wenigstens das hier heil.«
Heil.
Er hat Brot gesucht.
Seine Haare stehen stachlig nach oben.
In dicht gebündelten Strahlen schießt das Abendlicht durch die knapp unterm Dach angesetzte Fensterreihe auf das Deck des stillen Schiffes. Alles ist deutlich, voller Zeigekraft: die Lebensgischt zu dicken weißen Krusten und Eisspitzen, zu Seevögeln und Fischen erstarrt.
Vorwärts! Vorwärts!
Schmettern die hellen Fanfaren,
Vorwärts! Vorwärts!
Jugend kennt keine Gefahren.
Vater weint. Seine kamilleblonden Brauen, sein zitternder Mund. Das kindliche, noch unbeflaumte Kinn. Ich sehe ihn vor mir, träume von ihm. Vater, jung und, wie mir scheint, noch unverletzt. Vater mit all der Lebensempfindlichkeit, mit der er zur Welt gekommen war. Noch weich. Nach diesem Menschen sehne ich mich wie nie zuvor in meinem Leben nach etwas oder jemandem. Wie nach etwas Lebensgeliebtem.
Das gibt es nicht?
Doch. Ich strecke die Arme aus.
Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. ”Simone und die Träume aus einem anderen Leben” ist der erste von fünf Beiträgen, die wir Ihnen unter dem Titel “Essen” vorstellen möchten.