Zuweilen kam mein gesamtes Leben mir so vor: einen engen, nur einen Mensch breiten Weg war ich gegangen. Die heimliche Melodie meines Blutes, der Puls jedes Muskels, jedes Nervs: »Nimm dich in acht!«
Vor Emil, der mir an der Tür auflauerte und mich nicht mehr losließ, vor Lehrern und Vater, die schlugen, vor Soldaten, die marschierten, vor Feinden, die unsere Wohnung wegnahmen, die Mutti bedrohten, auf Vati zielten, vor Volksgenossen, die mich diesem Feind in die Schusslinie stellen wollten, vor Jungen, die mir den Brotkanten stahlen, den ich zuvor selbst gestohlen hatte, vor Mädchen wie jenem, das mit zerrissenem Kleid und dreckigen Beinen im Lager Moschendorf saß. Im Gras. Zärtlich hielt es ein noch federloses Vogelbaby in der Hand. Das blanke schwarze Auge des Kükens schimmerte übergroß, sein fast durchsichtiger Körper pulste. Das Mädchen, es war kaum jünger als ich, drehte bedächtig die Hand, hob sich das Vögelchen bewundernd ans Gesicht und roch an seinem nackten Hals. Mit einer geübten Bewegung riss es dem Tier einen Flügel aus und drückte den Mund in die wunde Stelle.
Saugte daran.
Das Mädchen war geschickt, kein Tropfen fiel in seinen Schoß.
Es biss zu, aß alles auf.
Den Schnabel spie es am Ende mit einer kleinen, fast eleganten Bewegung des Mundes aus.
All die Zeit über blickte es mich unverwandt an. Und ich schaute ebenso unverwandt zurück.
Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. ”Eustachius erinnert sich” ist der zweite von fünf Beiträgen, die wir Ihnen unter dem Titel “Essen” vorstellen möchten.