Archives for Emil

Essen (2)

Eustachius erinnert sich Zuweilen kam mein gesamtes Leben mir so vor: einen engen, nur einen Mensch breiten Weg war ich gegangen. Die heimliche Melodie meines Blutes, der Puls jedes Muskels, jedes Nervs: »Nimm dich in acht!« Vor Emil, der mir an der Tür auflauerte und mich nicht mehr losließ, vor Lehrern und Vater, die schlugen, vor Soldaten, die marschierten, vor Feinden, die unsere Wohnung wegnahmen, die Mutti bedrohten, auf Vati zielten, vor Volksgenossen, die mich diesem Feind in die Schusslinie stellen wollten, vor Jungen, die mir den Brotkanten stahlen, den ich zuvor selbst gestohlen hatte, vor Mädchen wie jenem, das
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Hannes erinnert sich (2)

»Ein schweigsamer Bäcker ist ein braver Bäcker«, sagte Mutter enthusiastisch, »er spuckt nicht in den Teig!« »Hmmm«, machte Dr. Winsch, seine Begleiterin verzog keine Miene. Mutter fuhr fort: man brauche Emil für Extraleistungen. Emil werde gern backen für andere Kinder, Kränkere, das wäre eine volksmysterische Geste, sie denke an den Ur-Jäger, den Ur-Fischer, den Ur-Bauern, uralte Rhythmen, der Wandel von Boden, Wasser und Licht, ein geistig-züchterisches Handeln aus ungestillt titanischem Geist. Selbstverständlich ein Geschenk, ein Gemeinschaftsgut, urgermanisch auch dieses: Blut zu Blut, Bein zu Bein, Kuchen zu Kuchen. Klara Grolmann, exakt gescheitelt, Haarknoten im Nacken, die Schläue der Augen hinter
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Hannes erinnert sich (1)

Für ihn, den Kranken, gab es einen neuen Arzt in Breslau, Dr. Winsch. Er sagte, Emils linke Gehirnhälfte sei defizitär, der Klumpfuß müsse als Symptom einer größeren Schwäche des Erbgutes gelten. Diese Schwäche greife in Emil um sich. Die Behinderung werde zunehmen, Jahr um Jahr, was sage er, Monat um Monat: bis das Kind nicht einmal mehr humpeln können werde, nicht mehr artikulieren, nur sabbern, einkoten, schreien. Dr. Winsch hatte leise gesprochen, mit sachlichem Blick auf Emil. Unvermittelt wurde seine Stimme forscher, nein, froher: Man müsse untersuchen, wie das geschehe! Was als lebenswert gelte, was nicht. Ob wir ein weiteres
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Zugfahren (2)

Lilly erinnert sich Drechslers hatten uns ein Stück mit ihrem Holzvergaser mitgenommen, drei Kilo Holz ersetzten einen Liter Benzin, statt zu fallen, schienen die Flocken auf der Stelle zu schweben, so gleichförmig, dass der Wagen ins Endlose rollte dann torkelten sie zur Erde, Motorschaden, die letzten fünf sechs Kilometer waren wir gelaufen, die dicken, verschneiten Bäume, der Puusch, minus 20 Grad, wer konnte das erschleppen hohe Tannen und Buchen, Untergehölz, Emil humpelte schrecklich trotz des Maßstiefels aus Prag, Sonderanfertigung aus der Zeit vor dem Krieg, auf der anderen Seite glich ein ebenso maßgefertigter weibisch hoher Schuh den Unterschied der Beinlängen
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