Monthly Archives Oktober 2014

Essen (1)

Simone und die Träume aus einem anderen Leben Kelche, Schalen, Vasen, Gläser – ein flimmernder, herrischer See. Sonnenstrahlen fallen durch die hohen Fenster in die Halle, fangen sich in dem übereinandergestapelten Kristall, das die Luft in blendenden Dunst verwandelt. Draußen dämmert es, Amseln zwitschern. Ein Junge hat einen Flügel der hohen Holztür geöffnet, steht erstarrt auf der Schwelle. Die Kappen seiner Schuhe fehlen, rechts schaut ein grober grauschwarzer Strumpf heraus; die Haut über den Schäften ist nackt und bläulich vor Kälte. Auf das Verbindungsstück zwischen den Hosenträgern seiner Lederhose ist eine eingerissene Edelweißblüte genäht. Ich kenne ihn so gut, dass
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Wolf und Fuchs (6)

Hannes, nach 25 Jahren in München Wenn man wartet und wartet, sagte ich zu Eustachius, sitzt man irgendwann einfach nur da und nimmt wahr. Das Traumglucksen der Hühner, sagte ich, um ihm nicht vom Krieg zu erzählen, während ich an den Krieg dachte, das Fiepen der Küken, die nicht schlafen, das vereinzelte Gurren von Tauben. Hin und wieder spielt der Wind in ein paar Ästen. Ich erzählte von einer Nacht in Großmutters Stall auf dem Hof bei Netsche. Ich erzählte eine Geschichte vom Kommen, Liegen und Gehen. Draußen quietscht ein Tor, sagte ich zu Eustachius. Man wartet auf den Fuchs,
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Wolf und Fuchs (5)

Hannes erzählt Eustachius kam im Dezember 1930 zur Welt. An einem noch winterlichen Morgen neun Monate zuvor war unvermittelt ein Altfuchs ohne Deckung am Bach gestanden und hatte mich angeschaut, als habe er mich gesucht. Reif glitzerte, über dem Wasser zerriss der Nebel in Schwaden. Der Balg des Fuchses leuchtete hellrot, die prächtige Lunte schwang dunkler mit schneeweißer Blume. Das Gehöre drehte sich ununterbrochen nach dem Rauschen der Bäume, den Kopf indes hielt er so still, als böte er mir Paroli. Seine Augen taxierten mich mit der Schätzkraft des erfahrenen Raubtieres, gejagt und über all die Jahre entwischt. Es war,
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Wolf und Fuchs (4)

Eigentlich aber ist es der Fuchs, der zu Hannes gehört Ein Sprung Rehe, eine Rotte Wildschweine, ein Rudel Hirsche. Ich wusste, in welchem Alter und zu welcher Jahreszeit man den Bock schießt, warum das austretende Blut Schweiß heißt, wie die Fähe aufmerkt, wie früh sie die Hunde hört. Die Männer, die ich beobachtete, trugen Hosen und Jacken in der Farbe der Bäume, Moosgeruch hing ihnen im Haar. Ich lag am Rand einer Lichtung, besser versteckt als das Wild, und sah, wie stark und empfindlich sich das Leben in allem Gejagten zu retten sucht. Zum großen Herbsthalali Wilhelms von Preußen gab
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Wolf und Fuchs (3)

Auch Hannes begegnet dem Wolf: (Kriegsgefangenschaft in Russland) Niemand draußen wusste, ob oder wo er lebte. Er ging in der Lagerwelt auf, existierte nur dort. Es gab keinen Außenraum mehr. Seine Zigaretten tauschte er gegen Brot. Das alte Festhalten an Zahlen, die Bäckerregeln im Blut. Im Sommer arbeiteten sie auf einer Kolchose; von ihrem Gehalt zahlten sie Steuern und Gebühren an das Lager, das Wenige, was übrig blieb, wurde auf ein Konto überwiesen. Einmal durfte er 150 Rubel abheben, sie waren im Handumdrehen verbraucht und, wie er hoffte, klug verteilt. Er hätte gewusst, wie man einen Hasen fing; es gab
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Wolf und Fuchs (2)

Simone erzählt eine Gute-Nacht-Geschichte nach, die Eustachius gern erzählte: In den Wäldern um die Stadt Gubbio lebte ein großer, schrecklicher Wolf. Er riss, was er fassen konnte, fasste mehr, als man glauben wollte. Kaum ein Mensch wagte sich, seit er sich einige Male gezeigt hatte, über die Mauern der Stadt hinaus, ihr Bild verschwamm den Bewohnern vorm Gesicht, so eingeschlossen fanden sie sich, denn nie mehr konnten sie auf sich zurückschauen, nie sich von sich entfernen. Und wenn sie die zunehmend stumpfen Augen einmal öffneten, sahen sie erneut nichts als den Wolf, wie er, im Mittagslicht nur er selbst, schattenlos
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Wolf und Fuchs (1)

Eustachius erinnert sich Als ich an einem dieser Junimorgen am Teich den Kopf hob, stand schräg vor mir ein Wolf. Das Fell um seinen Kopf wölbte sich wie ein Kragen, grau, braun und weiß; geschmeidig wirkte er, fast füchsisch. Die Schnauze länger als bei einem Hund, die Brust schmaler, der Rist hoch, fellig, ein Grat. Er sah mir unmittelbar in die Augen und hielt mühelos meinem Blick stand. Seine Hornhaut war bernsteinfarben, die schwarze Pupille tierhaft undurchdringlich. Gewiss spürte er meinen Schrecken, ich war ein Menschenjunges, das nichts hörte, nichts roch, die Schwingungen des Bodens nicht fühlte, sich tölpelhaft überraschen
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hmK: Bin ich eine „Flucht-Gewinnlerin“?

Ich bin Jg.1943 und komme aus tiefster bay. Provinz (Grenzgebiet am ehem. Eisernen Vorhang). Meine Muttersprache ist der oberpfälzische Dialekt – mit ca. 6 Jahren war ich aber bereits zweisprachig: Hochdeutsch als erste Fremdsprache – und das verdanke ich schlesischen Flüchtlingskindern aus dem Breslauer Bürgertum mit einem wunderbaren Hochdeutsch. Diese Kinder wurden meine Spielkameraden. Vielleicht war das einer der Gründe für ein späteres Studium der Germanistik und Sprachwissenschaft. (c) hmK, 2014 —————————- In der Rubrik “Selbst-Erzählen” veröffentlichen wir Texte von Lesern.
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Hannes erinnert sich (2)

»Ein schweigsamer Bäcker ist ein braver Bäcker«, sagte Mutter enthusiastisch, »er spuckt nicht in den Teig!« »Hmmm«, machte Dr. Winsch, seine Begleiterin verzog keine Miene. Mutter fuhr fort: man brauche Emil für Extraleistungen. Emil werde gern backen für andere Kinder, Kränkere, das wäre eine volksmysterische Geste, sie denke an den Ur-Jäger, den Ur-Fischer, den Ur-Bauern, uralte Rhythmen, der Wandel von Boden, Wasser und Licht, ein geistig-züchterisches Handeln aus ungestillt titanischem Geist. Selbstverständlich ein Geschenk, ein Gemeinschaftsgut, urgermanisch auch dieses: Blut zu Blut, Bein zu Bein, Kuchen zu Kuchen. Klara Grolmann, exakt gescheitelt, Haarknoten im Nacken, die Schläue der Augen hinter
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Hannes erinnert sich (1)

Für ihn, den Kranken, gab es einen neuen Arzt in Breslau, Dr. Winsch. Er sagte, Emils linke Gehirnhälfte sei defizitär, der Klumpfuß müsse als Symptom einer größeren Schwäche des Erbgutes gelten. Diese Schwäche greife in Emil um sich. Die Behinderung werde zunehmen, Jahr um Jahr, was sage er, Monat um Monat: bis das Kind nicht einmal mehr humpeln können werde, nicht mehr artikulieren, nur sabbern, einkoten, schreien. Dr. Winsch hatte leise gesprochen, mit sachlichem Blick auf Emil. Unvermittelt wurde seine Stimme forscher, nein, froher: Man müsse untersuchen, wie das geschehe! Was als lebenswert gelte, was nicht. Ob wir ein weiteres
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