Affen

Das zweite große Recherchethema: Menschenaffen. Die zentralen Figuren des Romans, Eustachius und seine Tochter Simone Grolmann, sind beide Affenforscher. Warum Ulrike Draesner diesen Beruf für ihre Protagonisten wählte und was sie bei ihren umfangreichen Recherchen u.a. im Menschenaffenhabitat des Leipziger Zoos herausfand, erfährt man hier.

(Polski: Małpy. Übersetzung: Karolina Kuszyk)

Eustachius Grolmann, Jahrgang 1930, Kriegskind, Flüchtling, fürchtet sich vor Menschen. Er weiß warum. Mit Tieren hingegen versteht er umzugehen. Er ist alt, doch eine Frage lässt ihn, den Neurologen und Verhaltensforscher, nicht los: Wie kann es sein, dass Menschen Menschen töten? Warum sind Menschenaffen anders? Sind sie es wirklich?

Als er zu studieren beginnt, glaubt man an das Gute wenigstens in diesem Geschöpf: innerhalb einer Art töten sie einander nicht.

Seine Tochter Simone sieht das anders:

„Er hat 40 Jahre an Primaten geforscht. Bei ihm meinte Primaten: Menschenaffen. Ich forsche seit über 20 Jahren an Primaten: Affen und Menschen. Stach interessierte das Gehirn. Mich interessieren Gehirn und Verhalten. Affen sind Rudelwesen. Wer mit anderen lebt, muss sich in anderen spiegeln. Er muss sie berechnen können. Listig sein. Täuschen, tricksen. Das äffische Wesen liegt nicht in Nachahmung. Darin sind sie nicht einmal besonders gut. Das äffische Wesen ist Betrug.“

Simone:

„Sehen Sie sich Julys Körper an. Sie legen Ihre Hand auf Julys und bemerken, dass Ihr Daumen länger ist. Sie fassen einen jun­gen Bonobo um den Oberarm und haben nie im Leben so harte Muskeln gespürt. Sie ziehen an seiner Unterlippe und staunen, wie viel mehr Lippe er hat als sie. Sie schauen ihm in die Augen und stoßen auf einen Blick, so forschend wie der Ihre.“

Die Forscherin schob den Computer zur Seite, die Beamerfläche wurde blau, keine Figuren, keine Schatten, nur die Höhle, die Zuhörer, wir.

„Ohne diesen Spiegel hätten wir keine Möglichkeit zu verste­hen, was es heißt, ›ein nackter Affe‹ zu sein. Menschenaffen äh­neln uns nicht nur in den kodierenden Gensequenzen. Was das angeht, sind wir auch extrem nahe mit Fliegen verwandt. Entscheidend ist die Orchestrierung der Bausteine. ›Dark matter‹ nennt man, was dafür zuständig ist, dark matter bestimmt, wie aus dem immer gleichen Material Fliegen oder Menschen zusam­mengefügt werden, oder Schimpansen.

Ein Mysterium. Wir haben keine Ahnung, was geschieht.

Nur eines wissen wir:  Ohne Bonobos oder Schimpansen wären wir sehr viel einsamer auf dieser Welt.“

Forschungen seit den 70er Jahren belegen, dass es in Affengruppen Kindstötungen gibt. Neue Filmdokumente der BBC zeigen einen darüber hinausgehenden Fall: eine Gruppe jugendlicher Schimpansen überfällt friedlich auf einem Baum sitzende Mitglieder der Nachbargruppe ohne jegliche Vorwarnung oder erkennbaren Anlass. Ein Affenbaby wird aus dem Fell seiner Mutter gerissen und von den Angreifern zerstückelt. Danach reichen sie, gemütlich auf die Äste des „eroberten“ Baumes verteilt, Teile des Körpers herum und benagen sie. Das Verhalten wirkt rituell. Ebenso der Aufbruch zuvor: unnachahmlich heimlich war die Gruppe der Halbstarken von der eigenen Horde fortgeschlichen, geduckt, in Reih und Glied. Es fehlte nur die Kriegsbemalung. (BBC Video Chimps on the hunt)

Menschenaffen sind unsere nächsten Verwandten. Eustachius fragt nach den neurologischen Strukturen ihrer Entscheidungen, nach ihren sozialen Determinanten. Der Psychologe und Affenforscher Ernst von Glasersfeld entwickelte Anfang der 70er Jahre am Yerkes International Primate Research Center in Atlanta eine Affensprache aus ursprünglich 256 Lexigrammen: die abstrakten, nicht mimetischen Zeichen werden aus ausgewählten geometrischen Grundformen unter Verwendung verschiedener Farben auf einem schwarzen Quadrat aufgebaut. Forscher schließen die Tastaturen an Computer an; die Affen, vorrangig Bonobos und Schimpansen, kommunizieren durch Tastendruck. Die Grammatik von Yerkish folgt dem Englischen: Die Primaten bilden einfache Sätze, sie können Fragen stellen Befehle geben oder befolgen, Feststellungen treffen.

„Er sagte, ich brauche mir keine Sorgen zu machen, strich mir über die Haare und fing an, wie früher, als ich klein war, von den Affen zu erzählen. Wie oft er nachts aufgestanden sei, um den Flüstergesprächen der Bonobos zu lauschen. Den kleinen und größeren Schnutenlauten. Dass sie so erstaunlich viel von unserer Sprache verstünden, selbst aber nicht sprächen in unserem Sinn, weil die Produktion der Lautstrukturen stark genetisch fixiert sei. Während die Lautverarbeitung ein offenes System bilde, in dem wir und auch Affen fast alles lernen könnten. Dass wir in Wirklichkeit keine Ahnung hätten, wie der Übergang vom Grunzen zum Sprechen zu erklären sei. Dass, falls er einmal nur mehr grunze, ich ihm helfen solle.“

 Vlek spricht. Das Affenkapitel

Lange Zeit hatte der Roman ein Affenkapitel. Gesprochen wurde es von Vlek, einem von Eustachius heimlich im Haus gehaltenen jungen Bonobo. Vlek ist, anders als seine Gefährtin Monty, entkommen; Eustachius versucht, ihn wieder einzufangen. Der fast erwachsene Bonobo hangelt sich von Gartenbaum zu Gartenbaum. Die im Text verwendeten Zeichen sind die der Sprache Yerkish nacherfundenen Lexigramme für  ‚Eustachius‘ und ‚Vlek‘.