In den Wäldern um die Stadt Gubbio lebte ein großer, schrecklicher Wolf. Er riss, was er fassen konnte, fasste mehr, als man glauben wollte. Kaum ein Mensch wagte sich, seit er sich einige Male gezeigt hatte, über die Mauern der Stadt hinaus, ihr Bild verschwamm den Bewohnern vorm Gesicht, so eingeschlossen fanden sie sich, denn nie mehr konnten sie auf sich zurückschauen, nie sich von sich entfernen. Und wenn sie die zunehmend stumpfen Augen einmal öffneten, sahen sie erneut nichts als den Wolf, wie er, im Mittagslicht nur er selbst, schattenlos und groß die Gräben vor den Mauern umschlich.
Eine einzige Gutenachtgeschichte hatte Vater je erzählt. Diese. Keine Ahnung, woher sie stammte. Auch Esther war in ihren Genuss gekommen, und es schien, dem Wolf und Franziskus sei Dank, zu funktionieren: Meine Tochter ging nahe genug vor mir, um mich zu hören, und kein Einspruch, kein pubertierend hämisches Lachen unterbrach mich.
Franziskus beschloss, in den Wald aufzubrechen und den Wolf zu suchen. Die Bürger von Gubbio rieten ihm dringend ab, es habe keinen Sinn, sich gegen die Natur, selbst wenn sie irrlaufe, zu stemmen. Franziskus hörte, wie es heißt, aus Mitleid mit den Gubbionern nicht auf diese Worte, möglicherweise bewegte ihn stärker sein Mitleid für den Wolf. Als er in den Wald des Grauens zog, so Eustachius an dieser Stelle stets mit Genuss, schlichen zahlreiche Bürger der Stadt hinter ihm her; sie glaubten, dass das gierige Tier, wenn es einen Mann verspeist hätte, nämlich den vorwitzigen Franziskus, vorerst satt wäre. Ohne Gefahr also konnte man zusehen.
So verließen sie zwar nicht sich selbst, aber ihre Stadtmauern, bereits damit hätte Franziskus, auch ohne Erscheinen des Wolfes, etwas bewirkt.
Das Tier indes wusste das nicht und stellte sich brav mit weit aufgerissenem Maul vor Franziskus in den Weg. Dass dieser dabei nicht nur die gebogene Schärfe der Zähne sah, sondern auch, wie alt und löchrig das Gebiss im Kiefer hing, konnte dem Wolf nicht bewusst sein. Franziskus lud ihn ein, näher heranzutreten, und nannte ihn Bruder. Das einsame Rudelwesen legte, als der Prediger ihm versprach, dass ihm kein Leid geschehen solle, seinerseits als Friedenszeichen dem Mann, der die Tiersprache verstand, die Pfote in die Hand. Hand und Pfote passten bedingungslos ineinander, sie waren gleich groß und konnten gleichermaßen kräftig anpacken, nur, was die Milde anging, obsiegte der Wolf. Mit den Haaren zwischen den Pfotenballen erriet er jedes Gefühl, das sein Gegenüber je durchströmt hatte. Er folgte Franziskus in die Stadt, wurde wirklich den Rest seines Lebens von den Bewohnern gefüttert, und selbst die Hunde bellten, wie ihm versprochen worden war, niemals nach ihm.
Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. ”Simone erzählt eine Gute-Nacht-Geschichte nach, die Eustachius gern erzählte” ist der zweite von fünf Beiträgen, die wir Ihnen unter dem Titel “Wolf und Fuchs” vorstellen möchten.