Anfang August hackte er bei einer Witwe im Dorf zwei Stunden Holz, im Gegenzug lieh sie ihm ihr Fahrrad für den Rest des Tages. So behände er konnte, fuhr er damit die Hügel um Wilfing auf und ab.
Seit fast einem Jahr lebte er hier. Er hatte sieben Kilo zugenommen. Er war neuerlich bei Kräften. Die äußere Armut hätte er ertragen. Die innere setzte ihm zu. Noch immer hingen sie von fremder Hilfe ab.
Von Julius und Feli.
Jeder Tag dieses Lebens demütigte ihn.
Auf der Rückfahrt ging er in den Biergarten am Kloster, Geld in der Tasche, »a Geld«. Er trank eine Maß.
Er hatte den Wilfinger Förster aufgesucht. Der Mann sprach kaum; das Wenige, was er sagte, verstand er, Hannes, nur halb.
Der Zungenschlag war rätselhaft. Gleichwohl nahm er wahr, dass die Leute, redeten sie mit ihm, noch eigens nuschelten, und etwas in ihm, müde und erniedrigt, sagte nur: flieh, flieh, er wusste sich keinen anderen Rat.
Es war eine Überraschung, als er im Biergarten endlich bedient wurde. Die anderen Gäste saßen brütend über ihren graustumpfen Krügen. Jeder wusste, dass er zu den Preußen gehörte. Das war die freundlichere Version. »Polacke« die andere. Untereinander redeten die Einheimischen laut und ebenfalls wenig; ihn sahen sie aus kleinen wimpernlosen Augen an.
Er verirrte sich auf einem schmalen Feldweg oder fuhr absichtlich falsch, lehnte das Rad an eine der wenigen Eichen, schloss es sorgfältig ab, ließ den Schlüssel in die Hosentasche gleiten, jene ohne Loch.
Schilfstängel trieben in dem weichen schwarzen Wasser, »Weiher« wurde es genannt, ein Gletscherloch. Kein Mensch außer ihm schien im Wald unterwegs, alles war mit Aufbau beschäftigt. Sonnenflecken schliefen auf dem mit Tannenzweigen und Zapfen überstreuten Boden, die Buchenstämme glänzten im Nachmittagslicht. Teile der Kronen schwebten als Leuchtraketen über ihm.
Der Vogelgesang war Mitte Juli verstummt. Erschöpft lagen die Felder und Wiesen Wilfings unter der Hitze, in den Stallfenstern des Dorfes kreisten dicke Schwärme von Fliegen, er meinte, sie noch hier zu hören. Nicht einmal Hunde gab es, wie er sie kannte, Pferde nur für den Pflug oder den Bierwagen. Zuhause hatten die Hügel zu den Wangen seiner Frau gepasst. Hier stand der Wald, von Gebirgsflüssen durchschossen, karg, windschief, leicht bläulich in die Luft. Im Dorf war Heimat schon wieder ein großes Wort, gefüllt mit Edelweiß, Gülle und Bier.
Der Strauch wiegte seine eiförmigen, spitz zulaufenden Blätter, die Beeren standen in einem zipfelig wirkenden Kelch. Daneben Wald-Trespe, Brennnesseln, ein roter Holunder. Die Kirschen fielen ihm in die Hand, ihre zahlreichen Samen klemmten sich zwischen die Zähne, er schluckte rasch.
Die gab es kostenlos. Er wollte es einfach halten. Ohne Lärm. So, hatte er gedacht, läge er wenigstens im Wald.
Der Wald setzte ihm seine Stoffe zu.
Die zweite Handvoll.
Dieu! que le son du Cor est triste au fond des bois!
Hatte Förster Priebke ihm damals das Gedicht gezeigt? Oder war es Lilly gewesen, in ihrer Verlobungszeit?
Lilly, die Französisch sprach.
Damit, dass er an den Förster von Wilfing denken würde, hatte er nicht gerechnet. Eine starke geschlossene Gestalt. Er beneidete den Mann. Die grüne Joppe, die Hornknöpfe, das Tragen des Gewehrs, die Sicherheit jedes Schrittes und Griffs, den Drilling an der Backe, den Sechserbock über Kimme und Korn.
Durch ihn indes pfiff der Wind. Die Tollbeeren glänzten schwarz auch in der Hand. Sterben und essen, in jedem seiner Träume ging es darum. Das Beereninnere war weich und dunkelrot, sogar süß, wenn auch Zunge und Gaumen sich zusammenzogen, nachdem er die ersten geschluckt hatte.
Au fond des bois.
Es war unwahrscheinlich, dass man ihn rechtzeitig fand.
Er saß im Gras. Suchte, spürte die Tiefe des Waldes.
Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. ”Hannes, angekommen in Bayern, geht in den Wald” ist der vierte von fünf Beiträgen, die wir Ihnen unter dem Titel “Essen” vorstellen möchten.