Halka erzählt aus Wrocław
Die neue Person, die auf der Bahnfahrt geschlüpft war, wuchs und wuchs. Sagt wer?
Still und beharrlich? Schubweise?
Ständig, sage ich der Erinnerung.
Leszek kam kaum mehr aus der Universität zurück; er schien sich wohlzufühlen, jedenfalls besser als die Jahre zuvor. Grazyna hingegen verließ die Wohnung immer seltener, kochte und buk immer mehr. Jeden dritten Tag tischte sie nun selbstgemachte Piroggen auf, Weißkäse konnte man um die Ecke in einem der ersten kleinen Läden kaufen, Pilze, die es kaum oder nur getrocknet gab, ersetzte sie durch Zwiebeln und Kraut. Je länger wir blieben, umso ostpolnischer wurde ihre Küche, am Morgen ging Hefeteig in der Schüssel, am Abend der nächste. Mutter formte daraus Kulebiaks unterschiedlicher Größe, brachte den Sobolewskis im dritten Stock welche vorbei, nur um dort oben eine Stunde an dem polnischen Ofen zu sitzen, den man in der Mitte des Wohnzimmers aufmauerte. Im heißesten aller Sommer. Die Hefepasteten füllte sie mit Resten: Fleisch, Fisch, Reis, Gemüse, hartgekochte Eier, Mamuś wurde erfinderisch und setzte Teiggitter obenauf, in denen man mit etwas Mühe den Turm der Lemberger Kathedrale oder die Umrisse des Opernhauses erkennen konnte, und dann stand sie in der Küche und aß das Kunstwerk allein, da Vater und ich in Kulebiak-Streik getreten waren, und Grazyna wurde runder und unbeweglicher davon.
Die Zutaten kamen vom plac Grunwaldzki, Leszeks »herrlicher Kaiserstraße«, einer tausend Meter langen Schuttstrecke, von den Hitlerowcy höchstselbst hergestellt. Der Wind verteilte roten, kalkigen, grauen und rußigen Staub, eine Frau, deren Brüste vor Hunger zu langen Fäden geworden waren, stillte jeden Tag, am Boden hockend, ein Baby. Hier, auf dem Szaber, brachten Adam und ich die Familie durch.
Mit Sachen aus der Paulinenstraße fingen wir an. Zunächst verhökerten wir einen orientalisch anmutenden Aschenbecher aus getriebenem Silber, drei Tassen, Teller und Unterteller des weißen KPM-Geschirrs, Testverkäufe für die teuren, blaugoldenen Stücke aus dem Vertiko im Wohnzimmer. Eine Kristallvase, überschüssiges Bettzeug. Ich suchte mir einen sicheren Platz, das Kind, das wieder Kind werden sollte, ging Wohnungen plündern. Regelmäßig trafen neue Transporte ein, Vertriebene aus den Kresy, Arbeitssuchende aus Zentralpolen.
Wir waren flink. Unsere Haut spannte über den Kehlen wie bei hungrigen Vögeln.
Meine Eltern wussten nichts, der Szaber war kein Ort für sie. Auch, warum Adam in der Küchenkammer schlief – ihr kleines Fenster, ein lufcik, ließ dem Mond kein Spiel –, beschäftigte sie nicht.
An manchen Tagen erhöhte ich alle paar Stunden die Preise, an manchen Tagen ging ich zum Plündern mit. Unser Geheimnis, unsere Wunderhöhle wartete auf uns. Aus ihrem wie ein Auge geformten Frontglas zackten Scherben gegen den Himmel. Die von geschnitzten Jugendstilblumen umrankten Schaukästen am Ein- und am Ausgang waren zerstört, zwischen zersplitterten Balken zwängten wir uns hindurch. Zerborstene Regale, Lebensmittel und Kleidungsstücke unter niedergegangenem Stuck. Rasch lernten wir, uns in den meterhohen, geborstenen Räumen zu bewegen, das wenige Licht zu nutzen, das hier durch einen Mauerriss fiel, dort durch ein Loch in der Decke. Staub schwamm in jedem Strahl. Toten wichen wir aus, sie waren längst leer.
Das Gebäude wirkte brüchig, jeder Durchschlupf gefährlich und schmal. So gehörte es uns, das Kaufhaus der Gebrüder Barrasch, hallend, unheimlich, weit, ruiniert. Wir erwarteten alles, Feinde, Verfolger, Räuber, sogar Leichen, die seufzend nach uns griffen. Das hätten wir uns nie eingestanden, wir hielten uns an der Hand. In den Rohren gluckerte und knackte es, Wind pfiff durch die Mauerrisse, als umtanzten Horden höllischer Unterteufel das einstige Luxusreich. Waren wir zwischen atemberaubenden Staubwolken, undefinierbaren Gerüchen und den aus übergroßen Tiefen hervorgurgelnden Lauten tiefer in die geplünderten, in ihrer Leere und Größe halluzinatorischen Hallen gedrungen, begannen unsere Augen, nach Diebesgut zu suchen; nur unsere Herz- und Beinmuskeln vergaßen die Angst nicht und zuckten, als lebten sie in Hasenkörpern, bei jedem Geräusch.
Höhepunkt unseres Tages, Mutprobe, süßes Geheimnis. Im Erdgeschoss fanden wir unter von Ziegeln und Mörtel verschütteten Tischen eine Kollektion feinster Lederhandschuhe für Damen. Zerkratzte gaben wir billiger ab; nicht mehr zu rettende schnitten wir auf, verschenkten die Lederflecken, lockten Kunden an. Die Farben waren sagenhaft, ein Traum inmitten der Trümmer. Und erst die schmeichelnde Festigkeit der tierischen Haut. Auch uns hatten Hände und Augen geschmerzt, als wir den Schatz entdeckten, diese Werkstücke der einst so leuchtenden, zivilisierten Welt. Ich behielt mir ein safranfarbenes Paar, dessen feine, umschließende Kraft mich die Schrammen und Risse meiner Beutehände vergessen ließ. Adam drückte seine Lippen auf meine bekleidete Rechte, und wir, selbst staubig und heiß, machten ein paar unbeholfene Tanzschritte durch das unter seinem Gewicht stöhnende Höhlensystem der Barraschs, ihren zerblätternden Wespendom aus Holz und Beton, das verlassene Wabenreich eines zu neuen Kriegen ausgezogenen Hornissenschwarms.
Vorsichtig krochen wir mit unserer Beute durch ein Ziegelloch auf der Rückseite hinaus. Dort räumten deutsche Frauen und Männer die Straße von Trümmern. Weiße Flecken bewegten sich vor unseren Augen, wir blinzelten, freuten uns: Das Gesetz, das Deutsche verpflichtete, sich mit einer weißen Binde am Oberarm zu kennzeichnen, wirkte Wunder. Es sah aus, als wollten die Hitlermenschen sich immer von neuem ergeben. Über ihnen zuckten die Feuerscheine am Himmel, łeb mi pęka, Tatuś sagte das gern, ihm glühte der Kopf von Fußnoten, mir von Menschen, Beute und Staub.
Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. ”Halka erzählt aus Wrocław” ist der dritte von fünf Beiträgen, die wir Ihnen unter dem Titel “Essen” vorstellen möchten.