Zugfahren (2)

Der Bahnhof von Wrocław

Der Bahnhof von Wrocław

Lilly erinnert sich

Drechslers hatten uns ein Stück mit ihrem Holzvergaser mitgenommen, drei Kilo Holz ersetzten einen Liter Benzin, statt zu fallen, schienen
die Flocken auf der Stelle zu schweben, so gleichförmig, dass der Wagen ins Endlose rollte
dann torkelten sie zur Erde, Motorschaden, die letzten fünf sechs Kilometer waren wir gelaufen, die dicken, verschneiten Bäume, der
Puusch, minus 20 Grad, wer konnte das
erschleppen
hohe Tannen und Buchen, Untergehölz, Emil humpelte schrecklich trotz des Maßstiefels aus Prag, Sonderanfertigung aus der Zeit vor dem Krieg, auf der anderen Seite glich ein ebenso maßgefertigter weibisch hoher Schuh den Unterschied der Beinlängen aus
der Aufbruch war Emil, dem armen
Krawitschl, in die Schenkel gefahren, er konnte sie kaum mehr koordinieren, schalteten wir
die Taschenlampe an, wurde nichts besser, ringsum strahlten die Waldesstämme auf, unheimlich
nah und geduldig
ragten die Bäume nach oben, halbschlafend
unter ihrem Schnee. In mir ging das Haus, langsam verglühte in seinen Zimmern die Wärme, langsam verglühten dort wir, ich dachte, wie am kommenden Morgen Eisblumen über das Küchenfenster zögen
wie immer, sie würden über die Scheiben wachsen, das also bliebe, unser Haus ein Garten
aus Eis.
Weit nach Mitternacht hatten wir den Breslauer Hauptbahnhof erreicht, Türmchen und Zinnen, die einst märchenhaft zuckrige, nun tröstliche Burg. Ich kannte jede Ecke, hätte mich im Dunkeln zurechtgefunden; es war dunkel, statt des Bahnhofs fand ich ein schorfiges Gelände aus Gepäck und Mensch. Dicht an dicht zusammengeschoben, ineinander verkeilt: Koffer, Rucksäcke, Hand- und Kinderwagen, Radbehren, Säcke, Bündel und Decken. Daran gelehnt oder daran geschnallt Frauen, Kinder, Greise, Lahme und Kranke, beängstigend
still. SS
und Polizei patrouillierten. Die hohen Stadthäuser, Fassaden voller Erker und Gesimsen, lagen ebenfalls dunkel, keine Laterne brannte, die Stadt versuchte, sich zu verstecken, nicht dazu sein, heimlich von ihrem Erdboden zu kriechen, viele Wohnungen standen wohl bereits leer, in the dead
of the night, hörte ich später, ein Leben später, just tell us
how did you leave?
how did it break your heart?
die Amis waren simple and straightforward, „tell us“, die Amis wussten Bescheid und waren ahnungslos, Mai einsneunvierfünf.
Lilly, das Kind, hatte den strahlend weißen Zuckerbahnhof geliebt, eine mittelalterliche Wunderburg, Fialen, Flaggen, Fenster, der Eingang von zwei orientalisch anmutenden Uhrtürmen bewacht. Glitzernd und immens öffnete sich hinter den schwingenden Türen die Prunkhalle, goldenes Laub berankte ihre Wände, die Luft, die man atmete, schmeckte nach
Dampf, Schmieröl und Welt
nach Blumen aus den Kiosken und Zuckerwatte. Schlanke, aus den Mauern lehnende Frauengestalten trugen Kerzenlampen, Lüster schwangen von den Decken, durch das teure Opakglas im Dach der zweischiffigen Wandelhalle schienen Sonne, Mond und
unwandelbare Sterne
auf den Express Breslau-Berlin, Breslau-Lemberg, Breslau-Moskau, Zeitungsverkäufer schrien Schlagzeilen aus aller Welt, hinter ihnen ragten die Gleise aus dem Bahnhof, den allein schon man in seiner Höhe und Weite nicht begreifen konnte, in die versprochene, unausdenkliche Ferne.
Das alles war weg.
In der kalten Halle stand zu Tausenden das neue Wesen Gepäck+Mensch. Die elektrische Notbeleuchtung an den Wänden brannte, wiederholt kreisten Taschenlampenstrahlen über uns, ein Gesicht leuchtete unter einer Mütze auf, fragend, ängstlich, stumpf, ein Mädchen
mit roter Mütze, ein Junge, kaum jünger als Eustachius, der schrie, eine hudernde Mutter, jedes
Bild ging so rasch unter, wie es erschien, wir waren nun
zur Gänze
Teile des Endes, wie Rinder, die Köpfe gesenkt
verharrten wir in unseren Atemnebeln, willfährig
noch immer führbar
grauschwarz. Der Kriegsbahnhof war untergegangen, verschwunden der Bahnhof der Messerminuten: Hannes fuhr an die Front, der Herzensminuten: Hannes kam zurück, die SS
hatte das gesamte Abfahrts- und Ankunftsareal linkerhand sowie das linke Seitenschiff gesperrt, vor uns lag
der AUFBRUCH
das riesige, steinerne, zugige AUFBRUCHSTHEATER
seine Bühne der Bahnsteig
leer, abgesperrt, die Herde Gepäck+Mensch reglos davor, als Requisite ein Zug, lang, dunkel, ersehnt
ungewiss.
Wir schafften es nicht in den ersten, zu plotschig, zu unerfahren, man durfte nicht denken: „Den einen Zug treffen Bomben, den anderen nicht“, so oder so säße man gefangen im Waggon, schon im Bahnhof lagen wir wie Fische in der Dose, es war unsinnig, Angst oder Gedanken zu haben, Spatzen hockten auf den Eisenträgern unter dem Glasdach und putzten ihr Gefieder, wie dumm sie waren, nun sah ich es, noch immer steckten sie den Kopf unter die Federn und glaubten, dann geschehe nichts. Wir hatten stillgehalten, noch die Federn geplustert, um größer zu wirken, Volk, Führer, Vaterland, alles ging gut, besser als erwartet, und als es anfing, schlechter zu gehen, schlossen wir die Türen, versteckten die Köpfe, schalteten es aus, das Gehirn, fuhren ihn runter, den Herzschlag, fürchteten uns möglichst so, dass wir es nicht merkten, Emil
klammerte sich an mich, flüsternd
besprach Lilly sich mit Eustachius, ich sehe uns da am Boden sitzen, das dämmrige Licht selbst Tags, die Versuche, sich zu wärmen, Mittags gab es Kaffee, eine echte Plärre, immerhin heiß, doch wärmte die Hände, ich schlürfte, kauerte mich zusammen, die SS
marschierte auf und ab, unsere
eigenen Männer und Söhne bewachten uns, sie waren bereit, uns zu schlagen, schlugen längst, wenn einer nicht gehorchte, seltsam, dachte ich, dieser
Krieg wächst
und wächst, alle Schatten
an den Wänden zuckten auf, ich wickelte mir das eine Ende meines Schals ums Handgelenk, knotete das andere um Emils Hals, zog ihn eng an mich heran, sehr eng, er schrie und gurgelte, Eustachius‘ Idee, wir hatten Emil nicht eingeweiht, man zuckte zurück vor dem jungen, offensichtlich fassungslosen Mann, es schuf uns nicht viel Platz, doch half, und Eustachius, hochgewachsen, brutal, Eustachius, die Klinge, drängte für uns voran. Koffer Säcke Taschen Deckenbündel Menschen wurden
gehievt, SS
schrie prügelte pfiff
schob den Riegel vor, der Waggon dämmrig, stickig, alle Sitze herausgerissen, die Fenster vernagelt, es fehlte das Glas, durch die Sicht- und Atemschlitze pfiff der Wind, endlich, wir fuhren, standen prompt wieder, Tür auf, Gepäck+Mensch kam nach, man quetschte, prügelte, verriegelte, wir hörten den Pfiff der Lok, spürten die Bewegungen Eisen
auf Eisen, fuhren, es war dunkel, draußen und zwischen uns, zwischen uns kroch die Dunkelheit umher, suchte die Finger, die Koffer, die Knochen, die Gedanken, das Ich, schloss sich darum.
Einer Horde Affen gleich, stumm und geduckt, saßen wir im Käfig und lasen uns, kaum fiel etwas Licht durch Ritzen und Luken, die Läuse ab, sie übertrugen Flecktyphus, tödlich, wir fürchteten uns, lebten noch. Die Sonne stand weit über dem Horizont, über unseren Horizont ging sie längst, der Zug ruckelte, bremste, hielt
Türen auf, Luft und Licht strömten wie Schläge auf uns ein, Patrouille SS: „Was tut
der große Junge da?“ Sie
wollten Eustachius mitnehmen, obwohl er zu jung war, sogar Emil kontrollierten sie, er musste seinen Schuh ausziehen, mit vor Hoffnung glänzenden Augen sah er die Schwarzuniformierten an, als
sie fort waren, zitterte hinter ihnen die Luft, ich fand kein bekanntes Gesicht mehr unter
den Schals, wir waren alle
verändert, kannten uns nicht mehr, glichen einander nur stärker als zuvor
hatten ein Stück unserer Geschichte aus den Gesichtern verloren als machten die Gesichter
sich leer, schlauer als wir, leer für die Geschichte
die nun begann, die große Flächen brauchte, viel vom Menschen, von uns verbrauchte – für sich.
Emil neben mir, das Jingla, kroch in sich zurück. Die SS
hatte ihn verschmäht, er schwieg tagelang.


”Lilly erinnert sich” ist der zweite Beitrag der neuen Serie Wegstücke. Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. Der erste, den wir ihnen in drei Auszügen vorstellen wollen, steht unter dem Titel “Zugfahren”.