Zu Ulrike Draesners Roman Sieben Sprünge vom Rande der Welt
Rubrik ‚Selbst Erzählen’. von BGK, 2014
„Wo – wo sind wir zuhause?“ (Simone Grolmann)
Ich bin irgendwo zwischen dem dritten und vierten der Sieben Sprünge vom Rand der Welt, als es an der Haustür klingelt, und die Nachbarin, eine rüstige Frau in ihren späten Achtzigern, mir einen Teller mit Streuselkuchen bringt – nicht selbst gebacken, nein, viel besser, von einer Reise mitgebracht aus der Gegend um Wrocław. Sie haben doch mal erzählt, Ihre Mutter kommt von dort. Ich stehe in der offenen Tür, schaue auf den Kuchen und bin konsterniert über dieses merkwürdigen Zusammenspiel, das man Zufall nennt; ein viel zu schwaches Wort für das, was sich hier mal wieder abspielt, finde ich. Klingt mir doch seit der ersten Seite das Stresla in den Ohren, verschwindet nicht, wird immer vielstimmiger. Stresla. Schmecken nach guter Butter, Vanille, Zimt und einer schnellen Sprache, in der alles auf a endet. Auch in meiner Kindheit gab es schlesisches Großelternwohnzimmer im Hochparterre. Dort saß man, wenn die Familie zusammenkam, auf Sofa, Sesseln, Sessellehnen, auf allem, worauf man sitzen konnte im sozialen Wohnungsbau der 1950er Jahre. Ferne frühe Familienfeiern. Feiern einer Fluchtfamilie. Der Streslakucha kommt nicht aus einem Backofen in Strehlen/Strzelin, sondern aus einem in Bielefeld. Flüchtlingsstrom entlang der Breitengrade 51/52, 600 km Luftfluchtlinie, Westnordwest.
Wenn die Großeltern ihrer Mundart freien Lauf lassen, stimmen ihre Kinder mit ein. Keine zehn Jahre waren sie alt, als sie Schlesien hinter sich ließen mit Tisch und Bett, Boden und Luft. Der Klang flüchtete mit ihnen. Er brauchte kein Extrabündel, er saß fest im Gewebe von Kehle, Ohr und Mund, und doch zerrte er sich auf, verflüchtigte sich mit der Zeit. Gut so, denn die Flüchtlingssprache machte es ihnen nicht leichter in der Schule. Wie sprechen die denn? fragen die Mitschüler und rücken auf der Bank mehr zur Seite als sie müssen. Man hatte ihnen erzählt, in Schlesien hause man in Erdlöchern, sagt meine Mutter. Drei-viermal im Jahr läßt er sich wieder einfangen dieser Klang. Dann lassen meine Mutter und ihre Brüder die Zungen tanzen im Stresla-Fest, ziehen sich gegenseitig hinein in Kaskaden mit kurzem a und langem i, in Wörter, von denen sie gar nicht wissen, daß sie sie verstehen, daß sie sie sagen können. Die Kleinen, die westfälisch sprechen und norddeutsch, werden still. Sie sperren die Ohren und Augen weit auf und genießen das Schauspiel. Komische fremde Welt. Großfamilienfestsprache für Große. Wohnzimmersprache. Lachsprache. Eine Sprache, die immer schneller wird und wilder, die unbändiges Lachen mit sich bringt, ein Lachen, wie es sonst nie gelacht wird. Die Augen werden ganz schmal, die Körper beben, die Tränen laufen die Wangen hinunter. Die Stimmen verausgaben sich in der Freude über ein wiedergefundenes Idiom; nicht das der Ausgegrenztheit, der Erdhöhle, sondern das der Welt, in der man jung gewesen ist, geheiratet hat, das Goldschmieden gelernt hat, das Kochen, das Nähen und den Verkauf von Stoffen. In der die Kinder geboren wurden, man sonntags am Ring promenierte, in der man das Radfahren gelernt hat und das Skifahren auf Gurkenfaßbrettern. In der es Mohnskließla gab in der Heiligen Nacht. Aber davon ist hier nicht die Rede. Hier wird erzählt von dem Leben, wie es jetzt ist. Vom Handel mit Töpfen und Kravatten auf den westfälischen Märkten, vom Paddeln auf der Weser, von den bunten Geschöpfen einer Hafenstadt, die sich das Tor zur Welt nennt. Ganz im Jetzt und ein bißchen im Morgen. Kein Gestern. Das Schlesische ist nicht ihr Gegenstand, es ist ihr Medium. Von Heimat ist nicht die Rede und nicht von Landschaft. Arm waren sie und haben nicht viel zurückgelassen an beweglichen und unbeweglichen Gütern. Haben sie überhaupt zurückgeschaut? Wo haben sie ihre Erinnerungen gelassen? Weggeschraubt in den alten Keks- und Kaffeedosen, die oben auf dem Schrank stehen?
Meine Mutter hat nie gesprochen von Wiesen, Feldern, Flüssen und Bäumen und Bergen. Nur den Schnee gibt es. Meterhoch, sagt sie, meterhoch zu beiden Seiten. So seien sie zur Christmesse gegangen zu Weihnachten, auf einem schmalen Pfad. Schnee war lange Zeit das einzige Bild, das ich von der Heimat meiner Mutter hatte. Ein weißer Fleck Familiengeschichte. Als meine Schwester, die einen polnischen Mann geheiratet hat, von einer Reise zurückkam, in der sie das Geburtshaushaus meiner Mutter aufgesucht hatte, brachte sie ein Photo mit, das auf der Rückseite dieses Hauses eine sommerliche Landschaft zeigt: Blumen, Sträucher, Felder, Birken, Wiese. Ich war so erstaunt darüber, als hätte ich wirklich gedacht, sie hätten sommers in der Erde, im Winter zwischen Schneewänden gewohnt. Ich habe es sofort geliebt, ich habe den Heckenrosenduft gerochen, das Flirren der Sommerinsekten gehört, und mir gedacht, sie müssen es doch auch geliebt haben, und wahrscheinlich haben sie deshalb nie wieder davon gesprochen. Hätten sie davon gesprochen, wären ihnen die Tränen gekommen und die Tränen hätten ihnen die Worte genommen und am Ende wäre ihnen dann das Schlesische als Feiersprache und Lachsprache abhanden gekommen. Retten was zu retten war. Bettdecken, ein bißchen Schmuck, den Willen zum Witz. Damit durch den Krieg kommen, durch einen Krieg, von denen die im Frieden geborenen Kinder und Enkelkinder ihnen bittere Wahrheiten vorhalten werden, wieder und wieder. Sie sind den Landsmannschaften fern und wollen doch ihr individuelles Leid nicht anrechnen lassen auf eine kollektive Schuld. Also wird eher nicht davon gesprochen. Manchmal doch, wenn sie die Köpfe dicht zusammenstecken, ein Kabel reparieren, Wäsche sortieren, dann werden ihnen die Kehlen plötzlich eng, raue, abgerissene Wörter kommen heraus, die die Kinder und Enkelkinder sich erst viel später, im nachhinein, zusammenreimen. Die Männer über die Front und die Kriegsgefangenschaft. In halben Sätzen, mit fortwährend nickenden Köpfen (als wollten diese Köpfe sagen: Wir wissen ja alles, alles, was immer Du sagen wirst, komm, laß uns wieder schweigen.) Die Frauen über Vergewaltigung, fast ohne Worte, die Blicke gehen auf den Boden (einem Boden von dem sie gehofft haben mögen, er würde sich auftun und sie verschlingen, Du brauchst mir nichts erzählen.)
Da steht die Nachbarin vor der Tür, mit dem Kuchenteller in der Hand. Sieht nichts von den übereinanderstürzenden Flashbacks in meinem Kopf, fragt nach, irritiert über mein Schweigen:„Oder habe ich das verwechselt?“
„Nein, nein, wie wunderbar! Gerade habe ich an Stresla gedacht, ob Sie’s glauben oder nicht, herzlichen Dank!“
Sie nickt. „Er schmeckt doch anders dort“. Der echte Streuselkuchen. (Bin schon wieder im Buch…) Wir verabreden uns zum Kaffee. Den Kuchen stelle ich in die Küche. Dort lungert mein Sohn herum: „Was hast Du da?“
„Stresla.“
„Was?“
„Streslakucha –Streuselkuchen. So hat man gesagt, dort, wo die Oma als Kind zuhause war.“
„Mmh. Krieg ich ein Stück? Weißt Du, eigentlich ist Streuselkuchen der einzige Kuchen, den ich mag.“
Die Bäcker hier bieten belgische Waffeln an, russischen Zupfkuchen an, New York Cheese Cake, Schwarzwälderkirschtorte, Schwäbischen Apfelkuchen, Muffins und Cookies mit doppelt Schokolade. Aber er ißt nur Streuselkuchen. Und ich habe nie einen gebacken. Ein Lachen, mir selbst nicht ganz geheuer, steigt in mir auf.
„Warum lachst Du?“
„Über Deinen Lieblingskuchen. Ausgerechnet Stresla. Und darüber, daß ich nie backe.“
„Wo ist das nochmal, wo die Oma herkommt?“
„Früher Schlesien, heute Polen. Nicht weit von Breslau.“
„Wie sieht es dort aus?“
Ulrike Draesners Buch liegt auf dem Küchentisch. Weites wogendes Feld, ein düsterer Himmel. Ich zeige darauf. Vielleicht so.
„Wirklich?“
„Ach, ich weiß es gar nicht. Ich habe nur einmal ein Photo gesehen, Wiesen und Felder und eine Hecke und viel Himmel.“
„Himmel gibt´s doch überall.“
„Aber nicht denselben.“
„Natürlich denselben.“
„Meinst du?“
Er liest über Kopf: Sieben Sprünge vom Rand der Welt. „Geht doch gar nicht. Wenn die Welt rund ist, eine Kugel, meine ich.“
„Blöd ist, daß man trotzdem aus der Welt fallen kann.“
Er schaut mich an, zweifelt an meinem Verstand. Erst meint sie, es gäbe verschiedene Himmel und am Ende hat sie selbst die Geschichte mit der Erdkrümmung nicht verstanden. Grundschulstoff.
„Weißt Du, ich habe da gerade eben eine Stelle gelesen, da erinnert sich ein alter Mann an die Landschaft seiner Kindheit, nicht weit von dort, wo die Oma herkommt. Ich lese sie Dir mal vor, sie könnte Dir gefallen, es geht auch um Schuleschwänzen und große Ferien. Außerdem ist es da gerade Juni. Wie jetzt. Hör zu:
Den Juni hatte ich am meisten geliebt, fahlgrün, gelbgrüngrün, eben erst fing der Sommer an, alles lag noch vor einem, anders als im August, wenn gegen Ende des Monats die ersten trockenen Blätter in den Bäumen hingen, und das Licht mit einem Ruck gelber und merklich kurzstrahliger wurde. Im Juni standen die Sommerferien vor der Tür, welches gloriose Gefühl. Das war Zuhausesein: die letzten Schulwochen hindurch brach ich morgens früher, als ich musste, mit dem Fahrrad auf, sauste vorbei an den Vorgärten der Kronprinzen- oder Beethovenstraße mit ihren Jasminsträuchern und Rosenbüschen, vermied jeden Seitenblick auf die Evangelische Knabenschule und rauschte unter der Eisenbahnbrücke hindurch in die Freiheit. Felder säumten den Weg, eine Wiese mit kleinen Teichen, die selbst im Sommer nicht austrockneten, als flössen der Oder selbst hier, viele Kilometer von ihrem Bett entfernt, unterirdische Rinnsale speisend zu. Weiden warfen ihre Schatten auf die zahlreichen Holzstege über den Bächen, schwangen ihre biegsamen Äste wie Frauenhaar in der milden Luft. Ich fuhr den Hügel hinauf, das letzte Stück ging ich zu Fuß, auf der Kuppe kreuzten sich die Spuren von Rehen, Füchsen und Hasen. Die Steine lagen warm im Boden, ich spürte sie durch die dünnen, allzeit abgewetzten Sohlen meiner Sandalen, und die Erde war erdig, erst im Juli verwandelte sie sich in Staub. […… ……] Die Kornfelder wogten, ich sah den Wind in mächtigen grüngelbbraunen Wellen durch sie hindurchgehen, das Getreide wuchs höher als heute, vernehmlich raschelten die Halme, als wollten sie alle Kraft eines biegsamen Lebens vorführen. Ihr Geräusch machte die Umgebung auf eine Weise still, die mich mehr beruhigte als jede tatsächliche Geräuschlosigkeit.
Esther hatte mir vor kurzem vorgelesen, dass das chinesische Wort für „unendlich“ , mangmang, vom Wogen der Ähren im Wind stammt: als unendlich werde bei den Chinesen nicht die Salzsee empfunden, sondern das Wachstumsmeer, das goldgrüne Rascheln der Materie. Die Kornfelder bei Leuchten waren meine Ewigkeit. (S.183f.)
„Und Du meinst, die Oma hat auch so was gemacht, vor der Schule in die Felder fahren und so?“
„Glaub ich nicht, das wäre eher Opas Art gewesen, aber diese goldgrünen mangmang-Felder, die müßte sie eigentlich auch gesehen haben. Von so etwas hat sie aber nie gesprochen.“
„Wir können ja mal hinfahren und nachsehen, ob es diese MangMangs wirklich gibt.“
„Hm. Ich wüßte auch gern, ob es am Rande der MangMangs Mohnblumen gibt. Der schlesische Mohnkuchen ist ziemlich berühmt, eigentlich müßte es dort auch mangmang viele Mohnblumen geben.“
„Klar. Warum nicht?“
„Weil mir die Oma auch davon nie was erzählt hat. Müsste ihr doch in Erinnerung geblieben sein, diese knallroten Blüten.“
„Stimmt.“
„Vielleicht war sie zu klein, hatte noch nicht die richtigen Worte dafür, und konnte es deshalb auch nicht erzählen.“
Ja, sie war einige Jahre jünger als Eustachius, überlege ich mir. Vielleicht waren ihre Kreise zu klein, um die Unendlichkeit der Kornfelder vor sich zu bringen, aber dieses „Nimm dich in acht“ des Flüchtlingskindes, das Eustachius zur „heimlichen Melodie des Blutes“, geworden ist, das ist auch sie nie mehr losgeworden, sie hat es weitergegeben, es hat sich angereichert in meinen Adern, hat mich in friedlichsten Zeiten in hellste Panik versetzt. Da habe ich es herausstammeln, herausschreien und herausheulen müssen aus der Heimlichkeit, 3x wöchentlich, auf dem Sofa einer sehr klugen Frau. Talking cure. Ich hoffe, das „Nimm dich in acht“ ist gesundgeschrumpft im Blut meiner Kinder, ausreichend verdünnt, vermischt glücklicherweise mit dem Lebensmut väterlicherseits.
Der kleine Bruder kommt nach Hause. Beteiligt sich am Streuselkuchen. Wird über die Gesprächsergebnisse der letzten halben Stunde in Kenntnis gesetzt.
„Mang mang, cooles Wort, oder? Ist Chinesisch. Das heißt unendlich, dort wo die Oma herkommt.“
„Aber die Oma spricht doch deutsch?“
„So eine Art Deutsch. Der Streuselkuchen heißt da auch anders. Wie noch, Mama?“
„Stresla. Streslakucha.“
„Und warum gibt´s da auch Chinesisch, mangmang?“ –
„Weil man manchmal in einer anderen Sprache mehr begreift als in der eigenen…“
Beide Jungs sehen mich skeptisch an. Sie redet wieder krauses Zeug. Möchten sie lieber nicht vertiefen. Werden konkret:
„Kannst Du das mal aufschreiben, dieses Mangmang?“
Vielleicht habe ich vor zwanzig Jahren chinesische Schriftzeichen gelernt für genau diesen Moment, denke ich und schreibe es ihnen auf:
Sie nehmen das Papier mit, um das Wogen der Ähren im Wind an der Wand ihres Zimmers zu verewigen.
„…. Oder sich mit Tieren besser versteht als mit Menschen. Mit Affen zum Beispiel“, rufe ich ihnen noch hinterher, während ich Ulrike Draesners Buch wieder zur Hand nehme, um zu erfahren, wie es mit Eustachius Grolmanns zoologischen Lebensabendprojekten weitergeht. Keine Antwort. Ist aber womöglich nicht ganz verloren. Ist vielleicht gelandet im Ordner „Für später mal“.
Erst am Abend, kurz vorm Einschlafen, hat sich in mir eine Frage hochgearbeitet: War heute der Tag, an dem ich, eine Weitgereiste, eine, die möglichst immer mit einem Bein im Zug steht, eine, die am liebsten immer eine Fahrkarte in der Tasche hat, nahezu egal, welche, und eine, die in all dieser unablässigen Reiserei eine bestimmte Himmelsrichtung immerzu und geradezu vorsätzlich ausgespart hat, tatsächlich den Entschluß gefaßt haben sollte, dorthin zu reisen, diese traurigen, schwierigen, melancholischen, wütenden, zähen, langen und unabsehbaren 300 Kilometer über zwei Breitengrade Südostost…?
(c) BGK, 2014
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