Rucksack der Flucht

Karolina Kozak und ihre Mohnmühle

(Polski: Bagaż – Übersetzung: Karolina Kuszyk)

Karolina Kozak in einem Dörfchen vor Wrocław empfing uns, weil sie sich den Deutschen verbunden fühlte, in „deren Haus“ sie lebte. Sie empfand es noch immer so. Durch Dinge sprach sie mit mir: die alte schlesische Mohnmühle, die Bügel- und Plättvorrichtung aus grobem Holz im Schuppen, zwei dunkelgrüne Eimer mit dem Aufdruck „Schlesische Gießereien Liegnitz“.

Recherchen für Romane folgen eigenen Gesetzen. Man sucht etwas, wovon man nur ahnt, was es sein könnte. In Polen fand ich die Vokabel ‚pjeroństwo‘ und ihr schlesisches Pendant ‚Pieronstwo‘ (Kram, Zeug), fand Bezeichnungen wie postniemiecki, post- oder nachdeutsch, für die Jahrzehnte, in denen alles nebeneinander existierte: die mitgebrachten ostpolnischen Dinge, das vorgefundene deutsche „Hab und Gut“, die neue sozialistische Produktion, die Bastelei.

 

Stefania Wróbels Herkunftsfamilie war deutsch. Horst Konietzny, der die Tonaufnahmen machte, und ich besuchten sie in Sobótka am Fuß des Zobtens. Als im Januar 1945 alles floh, lag Stefanias Großmutter im Sterben, die Familie kam nicht fort. Nur zu gut scheint Stefania, die später einen Polen heiratete, sich an das Kriegsende zu erinnern. Naturgemäß, sprich: einer deutsch- wie polnisch-schlesischen Tradition folgend, bietet sie uns selbstgebackenen Streuselkuchen an. Wenn sie spricht (dieses melodiöse Deutsch), wenn ich ihr ins Gesicht blicke, den Wangen-Augen-Schnitt sehe, den mäusischen Augenausdruck, der aufzublitzen versteht, fühle ich mich zurückversetzt an den Großmuttertisch.

 

Rechtfertigungen, Verluste der Erinnerung, des Selbst. Vergangenheit und Gegenwart trennen sich nicht. Eine Schreib-Möglichkeit, die langsam entsteht: polyphone Kontinuität.

Übergänge zwischen den Figuren  – durch motivische Tunnel.

Ichs, die wegrutschen, durch Sprache gleiten.

Heimat nur mehr in der Erinnerung, in Wortfolgen, verderbten Bildern.

 

Die Verluste wogen schwer, mancher zerbrach daran. Andere betonten den Aufbruch, ihren Glauben an eine neue Gesellschaft. Den Rucksack der Flucht trugen sie alle ein Leben lang.

Er blieb unsichtbar für jene, die die Entwurzelung nicht teilten. Immer wieder während der Recherchezeit fällt mir auf, wie gut es gelang, dieses „Gepäckstück“ zu verstecken. Doch das stimmt nur halb. Nach innen, vor Freunden, allesamt ebenfalls aus dem Osten vertrieben, sprachen meine Großeltern über nichts anderes. Andere, Einheimische, Ansässige, Verwurzelte, wollte man nicht belasten bzw. sich selbst nicht dem Risiko aussetzen, sich eine Abfuhr zu holen. Gewiss, es gab die Vertriebenenverbände und ihr lautes Auftreten. Was aber tat jemand, der das nicht mitmachen wollte?

Innenräume bilden sich, Kammern, nicht dunkel, nur dämmrig. In der kalten neuen westlichen Heimat ebenso wie in Wrocław. Da weiß mancher nicht aus, nicht ein, verliert sein Körpergefühl, treibt durch Luft. Die nächste Generation versteht kaum, wer sie ist. Als bewegliche Teilchen erzeugt? Kinder nach dem Krieg.

Etwa 12 Millionen Deutsche sollen ab dem Herbst 1944 von Osten Richtung Westen gezogen sein. Im alt-neuen polnischen Raum spricht man von 30 Millionen Migranten. Doch wie will man gezählt haben? Viele brachen mehrfach auf, viele kamen niemals an.

Die Finsterlichkeiten, durch die sie fuhren, noch fahren.

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