Nicole Stadler: Zum Thema „Sich umzudrehen ist gefährlich…“

Liebe Frau Draesner,
ich habe Sie gestern, am 22.07.2014 im Brecht-Haus persönlich kennengelernt und bin von dem Abend immer noch tief bewegt. Ich habe Ihnen die beiden Fotos, die auf dem Gelände des Klosters der Barmherzigen Brüder in Breslau aufgenommen wurden, überlassen, Sie erinnern sich sicher. Mein Vater hat dort seinen Arbeitsdienst geleistet, was ihn schützte, denn seine Klassenkameraden sind bis auf einen weiteren alle in Kriegshandlungen ums Leben gekommen. Aber was er dort und in der Festung Breslau erlebt hat, hat ihn verändert.
Ich möchte gerne noch ergänzen, was mir im Laufe der Arbeit an meiner Familiengeschichte begegnete:
Zum Thema „Sich umzudrehen ist gefährlich…“ fand ich den Satz, der wohl Cicero zugeschrieben wird: „Wer nicht weiß, was vor seiner Geburt geschehen ist, wird immer ein Kind bleiben.“ Ich konnte damit den häufigen Kommentaren in meiner Familie besser begegnen, die mich immer wieder davon zu überzeugen versuchten, doch nach vorne zu schauen, statt in der Vergangenheit zu kramen. (Dass ich einige Sätze später von der Stiefschwester meiner einen (nicht aus der schlesisch/polnischen Linie stammenden) Großmutter erfuhr, dass die Uroma sich das Leben genommen hatte, ist bezeichnend.)
Die polnische Komponente, die Sie in Ihren Roman genommen haben, habe ich schon von vorneherein in der Familie. Das hat aber wiederum zu einer besonderen Belastung geführt: Die Familie mütterlicherseits meiner Breslauer Urgroßmutter stammte aus der Gegend um Posen und war polnisch. Als die Deutschen in Polen einmarschierten und in Folge Polen auch als minderwertig stigmatisiert wurden, war mein Vater sieben Jahre alt. Man vermied es daraufhin, meinen Vater über seine polnischen Wurzeln aufzuklären, man enthielt ihm dadurch sämtliche Familiengeschichte vor. Erst ich konnte mithilfe des Internets vor wenigen Jahren diese glücklicherweise recherchieren und sie ist so spannend, sie könnte ein eigenes Buch füllen. In Verbindung mit der Flucht meiner Großmutter und meines Vaters aus Breslau, die erst 1946 eine selbstbestimmte Ausreise nach Frankreich war, wo ihr französischer Schwiegervater für sie bürgte, führte dieses „Verzogen“ zu einem Kind oder Enkelkind, damit meine ich mich, das auch irgendwie „verzogen“ war. Immer unsicher, immer mit sich selber im unreinen, nirgendwo richtig zuhause oder dazugehörig, immer anders.
Ich habe diese Familiengeschichte einer Kriegsenkelin beginnend schon zur Zeit des polnischen Januaraufstandes 1863 und endend bei meinen Kindern mit vielen ergänzenden Hinweisen aus Psychologie, Neurologie und Verhaltensforschung aufgeschrieben und eigentlich wäre es ein fertiges Buch. Ich bin überzeugt, dass sie so gut erklären würde, wie Kinder aufwachsen, die sich noch Generationen später mit dem Leben zumindest phasenweise schwertun, warum Beziehungen scheitern, Bindungen zwischen Eltern und Kindern schwach sind und Menschen körperlich und seelisch krank werden. Also ein Gegenentwurf zu der heute „gern genommenen“ biologistischen Erklärungsweise von Verhaltens- und sonstigen Störungen. Aber auf der anderen Seite ist das eine sehr offene, sehr intime Geschichte und ich bin unsicher, ob ich sie wirklich an die Öffentlichkeit tragen kann. Sie ist jedoch nicht „ausgedacht“, sondern ist wirklich so geschehen, wenn auch gefärbt durch meine Wahrnehmung. Was mich aber wirklich daran hindert, sie zu veröffentlichen, ist, dass es mir nicht so gelingt, Gefühle so darzustellen, wie ich das in Ihrem Buch erlebt habe. Aber vielleicht muss das ja auch so sein, weil es ja meine Familiengeschichte ist. Außerdem soll es ja keine Literatur sondern eher ein Sachbuch sein.
Nun gut: Zum Schluss noch etwas, das ich in meinem Kriegsenkelbuch nicht erwähnt habe, aber gut zu dem umgeworfenen Dogma der vermeintlich friedlichen Affen passt:
Meine Mutter sah als etwa Fünfzig- oder Sechzigjährige im Fernsehen eine Dokumentation über Schneeaffen. Was da gezeigt worden war, beschäftigte sie über Tage massiv: eine Affenmutter deren Neugeborenes gestorben war, lief tagelang mit dem toten Kind umher und schien zu trauern!
Ich habe meine Eltern nie weinen sehen! Und in mein Aufsatzheft aus der 5. Klasse schrieb meine Lehrerin mir unter einen Aufsatz „Du musst Deine Gefühle anschaulicher schildern!“
Ich bin jedenfalls sehr dankbar, dass ich von einer Freundin von Ihrem Buch erfuhr und gestern bei der Lesung dabei sein durfte. Ich danke Ihnen von Herzen für Ihr Buch, das analog zu einer Schwangerschaft nicht nur neun Monate sondern sogar neun Jahre zum Entstehen brauchte. Die Geburtswehen waren sicher auch oft schmerzhaft. Vielen Dank!
Mit herzlichen Grüßen
Nicole Stadler

(c) Nicole Stadler, 2014

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