Es spricht: Simone

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Andere dachten bei »weggemacht« an ihre Teeniezeit, Abtreibungsdiskussionen, § 218. Ich sah die immer halbdämmrige Erdgeschosswohnung meiner Großeltern vor mir, Sessel und Sofa von Blümchencord überzogen, grau und braun. Stets saßen Menschen darin mit schweren Lidern und hängenden Wangen, fleischigen, gefurchten Gesichtern und schwimmenden Augen, die sich siezten, die flüsterten und Lieder sangen, die ich nicht verstand, nicht in Worten, aber in- und auswendig kannte. Gesprochen wurde über Dinge, die außerhalb der Wohnung nicht wahr sein durften oder sollten, den Hunger, die Schläge, die Verluste, die Heimat. Mitunter fiel auch der Name Emil, es war Lilly, die ihn erwähnte, am liebsten tat sie es, wenn wir unter uns waren, sie und ich, dann redete sie zu mir, dem Kind, von diesem, ihrem ältesten Kind, als gäbe es allein dadurch eine Verbindung zwischen dem auf der Flucht gestorbenen Onkel und mir, und so war es, er interessierte mich, weil Vater nie von seinem behinderten Bruder erzählte, während Oma, das spürte ich, diesen Emil liebte, und etwas von dieser Liebe wollte ich für mich (…).

Das Seifenradio glänzte schwarz. »Seelengefielde« sagte die Männerstimme. Sonor? Sonor. Dabei weich, halbgerolltes »r«. Charmant. Auf dem Dach eines der letzten Autos, so Eustachius, war am 19. Januar 1945 eine Stimme durch Oels gefahren: »Frauen jeden Alters sowie männliche Jugendliche unter 16 Jahren und Männer über 60 Jahre haben das Stadtgebiet zu verlassen!«
Zwei Stunden packen, acht Kilo pro Person. Die Stimme sagte: »Verschwindet, sterbt, verreckt.«
Ein großes graues Megaphon, sagte Stach.
ANORDNUNG!
Unterzeichnet: Hanke. Gauleiter, Reichsverteidigungskommissar.
Ich wusste, was der Mann im Radio meinte. Ich wusste es nur zu genau. Es war mir unangenehm und angenehm zugleich, ihm zuzuhören, eine Berührung an einem Ort, den ich wohl kannte, wenn auch seltsam halbtote Gestalten ihn bevölkerten, vergangene Menschen und ihre Schemen, Geschichten von Verlust und Untergang. Vater berichtete wenig aus seinem vorbayrischen Leben, Oma Lilly hatte stets nur Anekdoten aus einem versunkenen Landstrich des 19. Jahrhunderts erzählt, der Schlesien hieß, und ich, ich ahnte, was fehlte, wenn ich anfing, darüber nachzudenken, warum mein Vater war, wie er war.
Eine Antwort hatte ich nicht. Nur Vorstellungen, Annäherungen, Symptome. Und ihn. Als Kind hatte ich gedacht, eine wirkliche Hand habe Eustachius gepackt, eine Hand in einem hellen Lederhandschuh, die, während ich sie mir vorstellte, flacher wurde, als zögen die Finger sich zurück. Der Handschuh eines blutleeren, hungrigen Gespenstes, das Menschen aß, lange schon, eine Hand aus einer Wirklichkeit, versunken wie der Breslauer Wald, durch den mein Vater, sein schwerfälliger Bruder Emil und Lilly in der Nacht vom 19. auf den 20. Januar 1945 stapften, minus 21 Grad, drei Menschen mit drei durchweichten schweren Pappkoffern, so düster, dass nicht einmal der Schnee widerleuchtete unter ihren morschen Holzsohlen, vor ihrem einsinkenden Gehen.
Doch was hatte ich damit am Hut! Man konnte die Gegenwart durch die Vergangenheit nicht erklären, nur versäumen. Johnny hatte Recht: Er wollte davon nichts mehr hören. Er baute Straßen, er liebte Wege, er fuhr sie doppelt: hin und zurück.
Ich hingegen, unruhig, nervös, lag, statt zu schlafen, auf einem alten Buchara unter einem orangesuppigen, von Lasern durchkreuzten Stadthimmel. Der Teppich war ein Vaterstück, das älteste Erbstück bei uns: Stach hatte ihn in den 70ern gekauft. Darüber hinaus besaßen wir drei Silberlöffel mit den Initialen meiner Urgroßeltern. Ich wusste nicht einmal, ob mütterlicher- oder väterlicherseits. Es gab keine Bilder, keine Decken, keine Briefe, keine Fotos, keine Urkunden, keinen überkommenen Weihnachtsschmuck, keine einzige alte Puppe, keinen Topf, kein Taschentuch mit Monogramm, von Möbeln ganz zu schweigen. Nichts Althergebrachtes, kein Erbe, kein Geschenk über Generationen hinweg. Meine Familientradition bestand aus einem gespaltenen Holzlöffel, dessen Ende nach russischer Brotsuppe stank.