Doktor Winsch, sagte Ewald, stamme aus Hannover. Vor ein paar Jahren sei er nach Breslau versetzt worden – wir erinnerten uns. Inzwischen habe seine Karriere sich prächtig entwickelt, jung, mit 20, so Ewald, sei Winsch als Student der NSDAP beigetreten, seine Frau erwarte das dritte Kind. Wir luden ihn ein, anlässlich einer seiner medizinischen Inspektionsfahrten, die über Oels nach Breslau zurückführen mochte, Kaffee und frischen Kuchen in der Bäckerei zu genießen.
Eustachius war fünf, Emil 14 Jahre alt, wer ihn sah, hielt ihn für bestenfalls zehn. Wir setzten beide im ersten Backhof auf das Podest, das die Ausfahrer vor Jahren um die Kastanie gezimmert hatten. Sie rauchten dort, oft kamen die Lehrlinge und der Backmeister hinzu. Emil platzierten wir hinten am Baumstamm, Eustachius weiter vorn. Er jubelte, weil ich ihm meine Riechle-Soldaten in die Hände drückte, den vollständigen Schlachten-Schatz einschließlich der samtausgeschlagenen schwarz lackierten Schatulle. Ihr Inneres leuchtete unverändert rot wie ein chinesischer Mund.
Ein heller, warmer Julitag. Inmitten der unverputzten Produktionsgebäude sah Mutters gelbes Kontorhaus herrschaftlich aus. Fünf blitzend weiße Stufen führten zur Tür. In den Giebeln rundum stand: ›Boden‹, ›Öfen‹, ›Stall‹, ›Wäscherei‹. Kessel wummerten, Weizen und Roggen wurden durch Siebe gerüttelt. Vorm Tor riefen Händler ihre Waren aus; Männer mit langen Locken gingen durch das Bild, hochbehutete Gestalten, deren Namen etwas bedeuteten. Unser Name war slawischen Ursprungs, niemand wusste, wofür das »grl« stand, erst seit einem Jahrhundert hing der deutsche »Mann« daran. Wir betonten uns auf dem »o«, unsere Nachweise reichten aus.
Unsere Söhne, gefüttert mit Rosinenbrötchen und Limonade, saßen still, es sollte wirken, als passe Emil auf den Jüngeren auf. Beide trugen Lederhosen, gut deutsch. Eustachius, dessen Freude an spontanen Ideen wir kannten, banden wir, ohne dass er es bemerkte, mit zwei aneinandergeknoteten langen Hundeleinen an den Baum, damit er Emil nicht weglief, damit es friedlich blieb und Emil wichtig war.
Doktor Winsch stellte seine Begleiterin vor, eine etwa 30jährige ungeschminkte Frau, deren Namen ich vergessen habe, Kinderärztin aus Plagwitz. Sie hatten sich verspätet, es ging auf Mittag, wir sorgten uns um die Kinder in der Hitze, noch war alles ruhig. Ich bewunderte den schwarzen Adler Trumpf, in dem sie vorfuhren, das fiel mir nicht schwer. 1,7 Liter, sagte Dr. Winsch, und ein Adler, nahezu der Reichsadler, fahre einem stets schneidig voran.
Plaudernd stiegen wir die Stufen zu Mutters Haus hinauf. Die Düfte der in den Backhäusern gehenden Teige, die glänzenden Rosinenbrötchen und Streuselkuchen auf dem Tisch, der frisch gebrühte Kaffee.
»Du hältst dich raus«, hatte Mutter mir noch einmal zugeraunt.
Alles sollte weich bleiben, geschmeidig.
Die Besucher nahmen Kaffee und Kuchen, kauten, und Dr. Winsch lobte, eine Aufartung sei bei diesen Produkten eindeutig nicht nötig. »Aufartung«, wiederholte er. Im September werde der Führer auf dem Reichsparteitag in Nürnberg von Rassenhygiene und Rassenstandards sprechen, vorrangigen Zielen, allemal, falls es zu einem Krieg komme, den selbstverständlich niemand wolle. Grundlagenforschung, Erforschung erb- und anlagebedingter Krankheiten, Minderung schweren Leidens: sein Gebiet, Vorsorge und Gegenmaßnahmen: die Kollegin.
Wir sollten ihm Emil für acht Wochen in seinem Krankenhaus überlassen. Wichtige Untersuchungen des Gehirns und der Hände.
»Und auch des Gehapparates«, sagte die Ärztin. Sie sah straff und gründlich gewaschen aus. Brauner Zopf. Dazu eine scharfe jüdische Nase, die ihr bestimmt wenig Freude bereitete.
Meine Mutter, erfahren mit Brot, Korn, Söhnen und Geld, grauschwarzer Haarknoten, Hornbrille, nickte einsichtig. Ihr Verhandlungsgeschick sah man ihr so wenig an wie ihren Menscheninstinkt, sie achtete darauf, dass das Gegenüber nur ihre Verbindlichkeit spürte, ihr vorbehaltloses Mitgefühl. Unter ihren Geschäftspartnern war er berüchtigt, der Grolmann-Charme, der, da er aus ihrer Familie kam, ein Brösecke-Charme war.
Davon wussten Dr. Winsch und seine Begleiterin nichts.
»Wie löblich, dass Sie sich dieser Fragen annehmen!«, sagte Klara im Brustton weiblich-warmherziger Überzeugtheit.
Die Sorge um die armen Kinder, die geplanten Zu- und Aufwendungen heiße sie als ausgesprochen verantwortungsvoll gut, sie unterstütze die Aufgabe, den Einsatz, die Rassensicherung vorbehaltlos. Und wolle selbst einen Beitrag leisten.
Doktor Winschs Begleiterin nickte, er selbst nahm ein zweites Stück Mohnkuchen und sah auf den Hof. Ich folgte seinem Blick. Wirklich schien Emil sich um den jüngeren Bruder zu kümmern, der eben Max-den-Dritten streichelte. Zwischen den Jungen die gesinnungsrichtige Soldatenkiste; die Leinen im Gras und unter Decken auf dem Podest versteckt. Wir waren uns sicher gewesen, dass die Rassemenschen sie nicht bemerken würden, dass sie sich Emil nicht würden nähern wollen.
Eustachius richtete sich auf, als spüre er unsere Aufmerksamkeit, lief los, wurde zurückgerissen, saß erstaunt auf dem Po. Ich sah, wie er das Gesicht verzog, er drehte sich auf die Knie und krabbelte zu Emil zurück. Die Leine hatte die gleiche Farbe wie seine Lederhose.
»Sie haben ihn angebunden«, sagte die Frau.
Doktor Winsch hob die Augenbrauen: »Wen?«
Ich beeilte mich, »den Kleinen« zu sagen. »Auf ihn setzen wir unsere Hoffnungen, wir erziehen ihn streng. Disziplin! Härte! Darauf richten wir ihn ab.«