Mutti schlief, als ich das zweite Mal von Emil zurückkam. Ich setzte mich zu ihr und rechnete leise. Tag 79 der Flucht. Ich zählte und zitterte, drückte die Pistole in den Rucksack zurück, zitterte und zählte, eins und zwei, eins und zwei, zwei Söhne, und eins.
Warten, Zug fahren, hungern, zu Fuß gehen, warten, frieren. Seit Wochen saßen wir in Sondershausen, Thüringen, fest. Niemand konnte ununterbrochen angreifen, nicht einmal ein Menschensystem, ein Riesenheer aus dem Osten. Und niemand konnte ununterbrochen auf der Flucht sein, man saß herum, fast fühlte es sich an wie Herumsitzen früher, wenngleich es eine neue Art war, ein nichtsitzendes Sitzen, man saß und ruhte sich aus, die Flucht aber lag darunter, lag überall, man hielt nur gerade einmal für fünf Minuten sitzen das Maul und sammelte Luft.
Oels war geschrumpft, Lilly sagte, »in 14 Tagen sind wir zurück«, »in vier Monaten«, »in einem Jahr«, Oels war ein Name auf einer Landkarte, die Spitze eines Zirkels steckte darin, er kreiste und kreiste. In dem pausenlos vergrößerten Rund, das er zog, suchten wir ein Ziel, retteten von Bahnhof zu Bahnhof Emil hinter uns her, den warmen Stein. Oels glitt immer weiter an den Rand der Welt, der Zirkel war kein Zirkel, jede Wahl Illusion, der Weg eine schmale, sich irrwitzig krümmende, eisige, vom Zufall vor unsere Füße gespuckte Gespensterbahn.
Es ging nicht darum, sich vor Gespenstern zu gruseln. Es ging um die Frage, ob man selbst zu einem wurde oder nicht.
Für meinen Bruder hatte ich aus Holzresten ein Brett zusammengenagelt, auf dem er stehen konnte. Die Räder geklaut. Wie viele Kilometer zog ich ihn. Er hielt das Gepäck fest, schlug alle Stunden stumm die Arme um sich.
Vom Wohnzimmerfenster der Dombrowskis hatte ich die Engländer kommen sehen, »die werfen« gebrüllt. Es gab keinen Alarm mehr. Der erste Haupttreffer ging auf die Kreuzung, die Welt schlug, schepperte, knallte, Frau Dombrowski sang im Keller: »Davon geht die Welt nicht unter.«
Ich fand es nicht lustig. Es war auch nicht lustig gemeint.
Als wir in die Wohnung wollten, hörten wir das zweite Knallen, erdig, dumpf.
Das Haus über uns schmolz. Feuerlicht vor unseren Luftluken. Himmel anstelle der Häuser gegenüber.
Später hatte der Himmel keinen Boden mehr. Nur Flammen und dahinjagenden Staub.
Gegen Morgen wurden wir in eine Schule gebracht, es gab Brühe. Lilly fieberte und schlief. Ich suchte nach Brot, fand in der Stadthalle Kristall an Kristall: Schalen, Vasen, Gläser, Christbaumschmuck. Am fünften Tag wachte Lilly auf und sagte: »Er ist an einer Lungenentzündung gestorben.« Sagte: »Gestern haben sie ihn beerdigt.«
Am sechsten Tag waren wir von neuem unterwegs.
Dombrowskis verabschiedeten sich. Jeder befand sich auf einer anderen Flucht. Ich ging durch ein Wolkendickicht, das mich in sich trug. Die Gastgeber hatten die Wohnung verloren, wir Emil. Die Wohnung, nicht den Boden unter den Füßen wie Lilly. Mutti sagte alle fünf Minuten einen Satz: »Die Bombennacht hat ihn umgebracht.« »Die Engländer haben ihn umgebracht.« »Die Nazis haben ihn umgebracht.« »Die SS hat ihn um den Verstand gebracht.« »Die Flucht hat ihn umgebracht.« »Seine Schwäche hat ihn umgebracht.« Sagte: »Ich habe ihn nicht hinreichend beschützt.«
Ich tauschte das Wägelchen gegen Lebensmittel, stolz auf meinen Handel saß ich am Rinnstein und lutschte einen Kanten Brot. Anfangs hatte der Hunger sich mit dem Trick, jeden Bissen lange einzuspeicheln, unterdrücken lassen, inzwischen spürte ich keinen Hunger mehr, nicht so, wie ich es gekannt hatte. Nichts kam und ging wieder weg. Der Hunger saß jetzt überall, in den Fingerspitzen, in den Muskeln, im Kopf, malte im Träumen wie Wachen Wurstbrote, Schokolade, Milch von innen an meine Stirn. War ich wach, malte er sie zudem in die Luft. Die von Asche überpuderten Krokusstummel neben mir schmeckten schon ohne Asche widerlich. Rauch zog durch die Straßen, in den breiten, frisch geschlagenen Steinschneisen jagten sich der Wind und die aufgescheuchten Vögel. Ich hörte Katzen schreien, oder waren es Kinder; lautlos schlich ein Rudel Hunde vorbei.
Emils Kleider tauschten wir ebenfalls gegen Essbares. Hätte Mutti gedacht, Emil lebte, hätte sie seine Hosen und Hemden verschenkt, um Götter zu besänftigen, an die sie nicht glaubte, die es aber vielleicht gab. Sie glaubte an die Lungenentzündung, die sie selbst gehabt hatte, sie tauschte. Butter, Schinken, drei schrumpelige Winteräpfel. Was sollte ich tun?
Dass Mutti immer nur die Emilsätze sagte, machte mir Angst. Ich verhielt mich vor ihr wie einer der Rudelhunde, stumm, und machte mich dünn. Meine Mutter wurde an dieser Stelle ihres Lebens verrückt. Wenn ich sie ließ, wurde sie es vielleicht nicht auch an anderen Stellen.
Ich schlang die Arme um die Knie und legte meinen Kopf darauf. Augen zu, bloß nicht in den Rinnstein schauen. Saß da. Wie der Junge Eustachius, der im Sommer kurze Hosen getragen hatte, zuhause, in Oels. Acht Monate war das her.
Ich spürte die Ewigkeit.