Für ihn, den Kranken, gab es einen neuen Arzt in Breslau, Dr. Winsch. Er sagte, Emils linke Gehirnhälfte sei defizitär, der Klumpfuß müsse als Symptom einer größeren Schwäche des Erbgutes gelten. Diese Schwäche greife in Emil um sich. Die Behinderung werde zunehmen, Jahr um Jahr, was sage er, Monat um Monat: bis das Kind nicht einmal mehr humpeln können werde, nicht mehr artikulieren, nur sabbern, einkoten, schreien. Dr. Winsch hatte leise gesprochen, mit sachlichem Blick auf Emil. Unvermittelt wurde seine Stimme forscher, nein, froher: Man müsse untersuchen, wie das geschehe! Was als lebenswert gelte, was nicht. Ob wir ein weiteres Kind wollten? Dringend rate er ab, ja, meiner Frau empfehle er eine Sterilisation.
Ich sagte, wir hätten einen zweiten Sohn, blauäugig, blond, gesund, da sagte er: »Sehen Sie!«, als hätte er Recht gehabt.
Eine Zeit lebten wir sorglos. Emil, der sich immer warm anfühlte, Emil, unser kleiner Ofen, saß auf dem Teppich, die Katze auf dem Schoß. Auch sie mochte, was er ausstrahlte. Weniger als je zuvor wussten wir, wie ihm helfen, wir unternahmen nichts mehr, hielten ihn im Haus, hatten, wie sich später offenbarte, mehr Glück als Verstand. Mein Ältester spielte vor meinem Schreibtisch, ich saß und beantwortete Briefe. Blickte ich auf, ließ er Zinnsoldaten in einen Eimer fallen, betrachtete ein Tierbuch und versuchte, danach zu zeichnen. Emil. Sein Name erinnerte an »lieb«. Da saß der Liebe auf dem Teppich, hielt den Klumpfuß schief von sich gestreckt und lächelte still und geheimnisvoll wie ein Junges im Wald.
Ich spürte, dass ich ebenso zurücklächelte. Dabei konnten Erwachsene das gar nicht. Nur Emil hatte die Kraft, diesen Ausdruck in meinem Gesicht hervorzulocken. Bei einer Hirschkuh hatte ich einmal beobachtet, wie selbstvergessen ein Tier sein Junges anzusehen vermag. Ich fühlte mich berührt und in den Augenblick gelöst. Auch Max-der-Dritte schien um Emils besondere Fähigkeiten zu wissen, er folgte ihm überallhin, gegen Dackelart. Mit seinen krummen Beinen passte er zu unserem Kind, nebeneinander hertrippelnd legten beide auf gleiche Weise den Kopf schräg, als lachten sie beim Blick aufeinander über einen nur ihnen bekannten metaphysischen Witz.
Kinder wie ihn, sagte meine Mutter Klara, hatte es immer gegeben. Und schlimmere. Emil sei anhänglich, bemüht, still, wir sollten zufrieden sein. Und wirklich, er zeigte keinerlei Launen. Schrieb er einen Brief, klemmte er vor Konzentration die Zungenspitze zwischen die Zähne, runzelte die zarte Stirn mit Lillys fast durchsichtiger Haut. Schreiben liebte er, wenn es ihm auch schwerfiel; er notierte einzelne Sätze über Tiere und später über die SS. Die für mich bestimmten Briefe musste ich ihm vorlesen, das Blatt dann zurückgeben. Es berührte mich, wie das Kind kämpfte und dabei an mir hing.
Emil weckte eine weiche Seite meiner Männlichkeit, einen nachgiebigen Stolz. Männer wissen nicht, was Liebe ist, bis sie eine Tochter haben, behauptete Julius. Andere nickten, ich schwieg. Männer liebten nicht, bis sie ein besonders zu beschützendes Kind bekamen. Sein Geschlecht war unerheblich.
Für Eustachius galten andere Pläne. Er war der Stammhalter, lang und zäh schon als Neugeborener. Wir fragten uns, woher er das hatte. Perfekte Gelenke, die Glieder äußerst gerade. Und wie er die tiefblauen Augen aufschlug.
Hübsch. Und von weit her.
Vielleicht, weil Emil mich besetzt hielt, vielleicht, weil ich so stark wollte, dass aus Eustachius, dem Gesunden, etwas werde, weil ich mich bei ihm für ein gelingendes äußeres Leben verantwortlich fühlte, wurde ich streng.
Auch dabei dachten wir noch an Emil. Eustachius sollte ihn versorgen können, wenn Lilly und ich einmal nicht mehr waren.
Das bürdeten wir unserem Jüngsten auf.
Wir versuchten, ihn darauf vorzubereiten: Dein Bruder, er ist dein Bruder.
1935 oder 1936 kehrte die Angst zurück. Dr. Winsch, inzwischen Oberarzt am Krankenhaus Breslau-Nord, wollten wir nie mehr sehen – wir wurden einbestellt. Mutter kannte die Sprechstundenhilfe, griff zum Telefon. Das Wort »lebenswert« hörten wir nun regelmäßig, ein offizielles, hochwichtiges Wort. Emil trug Maßschuhe aus Prag, außen klobige Stiefel, innen perfekt angepasst. Er konnte sich selbst die Schleife über der langen Zunge binden, manchmal lachte er dazu, manchmal sah er traurig auf die Beine seines Bruders, rief ein »Stächel« oder »Stach«, flüsterte »kimm her ze mer«, und der Kleine rannte johlend vor ihm davon, berauscht von dem eigenen, leichten Sieg. Die Sohlen des Schuhs für den kranken Fuß waren anfangs 1,3 Zentimeter höher als links, dann 2,1 Zentimeter, schließlich 3,8. Julius und Feli bekamen ein drittes gesundes Kind.
Um Emil fürchteten wir. Die Angst um ihn und das Glück mit ihm steckten erneut wie Zapfen in uns.