Es spricht: Esther

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Das Arrangement brachte uns über die nächsten Wochen. Ende November fiel Stach die Stufen an seiner Haustür hinauf. Hinauf, nicht hinunter.
Stufen. Exakt zwei.
Hundertausendmal war er über sie gestiegen. Er hatte in den Briefkasten sehen wollen, brach sich den linken Unterschenkel, verstauchte sich die linke Hand und befand sich im Krankenhaus, als ich davon erfuhr. Mercedes hatte ihn gefunden. Er war nicht im Regen gelegen und hatte sich nicht erkältet, obwohl er stark unterkühlt war, als man ihn abtransportierte.
Erstaunlich rosig lag er, frisch operiert, im Krankenbett. Ein offener Bruch. Die Ärzte befürchteten Infektionen.
Großvater hing am Tropf.
Man hatte ihm ein Einzelzimmer gegeben. Er hatte gleich bei der Aufnahme erzählt, dass er fürchterlich schnarche. Und einen Mittagsschlaf hindurch geschnarcht.
Das war mir neu.
Er grinste.
Er war wie ein Kind. Sichtlich stolz auf seine Schläue. Stolz darauf, wie er die Pantoffeln unterm Bett versteckte, damit die Krankenschwester die Pfanne anschleppte, und er nicht aufstehen musste.
Mutter reiste unverzüglich an, ich war froh darüber. Sie brachte ihm fünf verschiedene Rezepte für schlesischen Streuselkuchen mit, aus dem Netz.
»Sind die auch echt?«, fragte er.
Jeden Tag buk sie ihm einen der Kuchen in seiner echten Küche zuhause. Nachmittags holte sie mich im Zoo ab; bei Opa aßen wir zusammen Probe.
Stach kontrollierte, ob die Stücke exakt rechteckig geschnitten waren. Treuherzig sah er uns an: Er schmecke den Unterschied. Hundertprozentig!
»Dabei ziehst du ein perfektes Montygesicht, hundertprozentig«, sagte Mama, und es entspann sich ein für uns ungewöhnliches Gespräch, natürlich und friedlich floss es dahin. Opa thronte in seinem Bett; er hatte sich nach Simas Ankunft unverzüglichzum Krankenhausfriseur fahren lassen, sich mit Hilfe eines Handspiegels selbst rasiert und trainierte, sagte er, jeden Tag. Er hatte eine halbe Stunde Physiotherapie. Darüber, dass er sich kein Äffchen halten könne, wolle er nicht klagen, in den Kongo umsiedeln werde er deswegen auf keinen Fall: »billige Pflege, verdammtes Wetter«. Und das Kind, Esther, hier, sagte er, das gehe nicht, er passe auf mich auf! Er, sagte er und rieb sich die Nase, komme perfekt allein zurecht: Weiterhin! Perfekt!
Auch wenn er sich zuweilen benehme wie eine Prinzessin auf der Erbse.
Doch, doch, rief er zufrieden in unsere erstaunten Gesichter, er liege auf Streuselkrümeln und beschwere sich nicht, er liege auf dem zerkrümelten Schlesien, dem schlesischen Himmelreich und lache darüber, das könnten wir ruhig genießen, mit ihm.
»Kriegt er Pillen?«, fragte Sima, als wir uns vor dem Haus trennten.
Ich war mir sicher, dass er nichts nahm. Da lag er und wurde versorgt, es bekam ihm vorzüglich, und sein Schalk, der sich früher nur den Affen und mir gegenüber hervorgewagt hatte, kroch nun auch in Gegenwart anderer Menschen aus ihm heraus. Das Glück hatte Opa eingeholt, wenn ich auch zweifelte, ob er es bemerkte, er sagte nur, wie er seit Jahren sagte: »Als alter Mann werde ich glücklich sein«, und grinste: »Een aaler Moan bin iech noch lange nich.«