Sprache – Sieben Sprünge vom Rand der Welt https://der-siebte-sprung.de Ulrike Draesner Sun, 17 Aug 2014 12:25:33 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4 63645751 mangmang https://der-siebte-sprung.de/mangmang/?pk_campaign=feed&pk_kwd=mangmang Sun, 09 Mar 2014 19:27:22 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=367 ]]> mangmang #7terSprung

MANGMANG: abgeleitet aus den Worten mang für ‚Granne‘ und wang  für ‚Ährenborste‘ bedeutet das chinesische mangmang „unendlich“. Der Dichter Yang Lian erklärt im Lexikon der sperrigen Wörter (Stuttgart 2010, S. 149ff.), dass das älteste chinesische Zeichenlexikon, das Shuowen jiezi, das Zeichen als „extremes Ende von Gräsern“ definiere. Lian fährt fort: „Für sich genommen und in seiner nicht verdoppelten Form lässt dieses Schriftzeichen also an Begriffe wie „scharf“ oder „spitz“ denken und generiert in Verbindung mit einem weiteren Schriftzeichen Begriffe wie „Dorn“ oder „Speerspitze“. Aber wenn man inmitten eines weiten Feldes steht, wenn man den Wind über das türkisgrüne Meer blasen sieht, läuft in seinen sich auf und ab bewegenden Wellen die leuchtende, harte Grasspitze plötzlich aus in einen gleichmäßig grünen Teppich und umhüllt dich mit einer unerwartet sanften Zärtlichkeit.“

Der Gedanke beeindruckte mich sogleich: unendlich ist nicht das Wasser-, sondern das Gras- und Erdmeer. Zumindest für Menschen, die in Regionen wohnen, wo Landwege sich über tausende von Kilometern erstrecken. Was sich mit meinem Landgefühl im nördlichen Osteuropa verband, wo man die Mächtigkeit der Erden und Gesteine, ihre Streckung und schiere Weite Richtung Osten in den Füßen zu spüren meint.

Wie sagt Lian: Doppelung und Zärtlichkeit.  Zwischen den Sprachen geht die Reise so: mögen/mangmang.

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Essay (2) https://der-siebte-sprung.de/rendez-vous-2-7tersprung/?pk_campaign=feed&pk_kwd=rendez-vous-2-7tersprung Tue, 04 Mar 2014 08:40:29 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=306 ]]> Aus Ulrike Draesners Reisenotizbuch #7terSprung

Teil 2 von Ulrike Draesners Essay zum Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“. Teil 1 finden Sie hier.

Sabine Bodes vor knapp zehn Jahren erstmals veröffentlichte Interviews mit Kriegskindern, Menschen der Jahrgänge 1930 bis Anfang der 40er Jahre, die die Zeit des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg mit all seinen Folgen als Kinder bzw. Jugendliche erlebten, halfen mir weiter. Vieles von dem, was ich las, erkannte ich wieder; Wege in die ebenfalls erst in den letzten beiden Jahrzehnten entwickelte Forschung zu Phänomenen transgenerationeller Übernahme von Traumata und zu Phänomenen wie postmemory öffneten sich.

 

Seit ich an dem Roman schrieb und manchmal von meinem Thema erzählte, hörte ich Geschichten von „seltsamen“ Träumen und Ängsten – Bilder im eigenen Kopf, die als fremd empfunden wurden. Sie stammten aus dem Leben eines Elternteiles. Offenbar werden nicht nur Gewohnheiten, Denk- und Emotionsmuster zwischen den Generationen weitergegeben. Studien zu Kindern traumatisierter Erwachsener sprechen von einem unbewussten „holding“ und „containing“, das Kinder ihren Eltern gewähren: sie spüren deren unaussprechbaren Schmerz, versuchen, die Erwachsenen zu halten und zu unterstützen, ja, „beherbergen“ sie in sich, erleben „an Stelle“, werden als Selbstobjekte funktionalisiert.

Familiäre Weitergabe: zart und brutal.

Verschiebungen des Gedächtnisses, der Psyche, der Seele. Schraffuren (auch) der Sprache. Menschen, denen „es“ den Rahmen verzogen hat. „Es“, das Geschehen – und die innere Beteiligung daran. „Es“: Die Übermacht von außen (gezwungen, bedroht, verfolgt, ausgesetzt) – und die Fragen danach, woher „es“ kam.

Wie, fragte ich mich, sollte es möglich sein, davon zu erzählen?

Irgendwann – seltsames „irgendwann“, wenn ich versuche, mich an Schreibspuren zu erinnern –, fand ich die Lösung. Ich musste einen multi-logischen Roman schreiben. Multi-logisch in der doppelten Bedeutung des Wortes: verschiedenen Lebenswahrheiten folgend, von verschiedenen Seiten her gesprochen.

Als ich las, wie von Ostpolen nach Schlesien vertriebene Polen ihre Erlebnisse sowie ihr Leben nach der sogenannten „Heimkehr“ schilderten, löste sich der Knoten. Die Idee für die Form des Romans kam aus dem Material. Da lebten Menschen aus Lemberg in dem von Deutschen geräumten Wrocław und sehnten sich in die Heimat zurück, mit Bildern, Schmerzen und Liebesgefühlen ähnlich jenen, mit denen Flüchtlinge aus Breslau im Westen saßen und in den verlorenen Osten blickten. Überraschender und stärker als die Unterschiede zwischen diesen Menschen waren die Spiegelungen. Die Auswirkungen des Heimat- und damit häufig verbundenen Familienverlustes; die induzierte äußere wie innere Verzogenheit.

Das Thema trifft uns und unsere Nachbarn. Erzählbar wurde es durch eine Kreuzung: im Roman bewegen sich eine polnische und eine deutsche Familie hintereinander her nach Westen, verfolgen sich, ohne sich zu kennen. In einer späteren Generation schneiden sich ihre Wege; bei ihren Kindern führen sie wieder auseinander.

Sowohl bei deutschen wie bei polnischen Zeitzeugen fand ich Spaltungen, Gedanken- und Gefühlsfluchten in nostalgische Vergangenheitsräume, die Weitergabe des Gefühls, selbst falsch zu sein. Ich hörte und las von Verlusten und Abenteuerlust, Aufbruchsnöten und Untergängen, von der Zerschlagung eines kulturell und sprachlich gemischten Raumes, begegnete Leugnung und Sehnsucht, Lüge und Mimikry.

Seltsam distanziert, von Unterbrechungen heimgesucht, durchzogen von Wutausbrüchen, Ängsten, Träumen von Sicherheit.

Noch einmal versuchte ich, mich vor dem Roman in Sicherheit zu bringen. Ich wiederholte die Geste meines Vaters: ich floh vor der Flucht – und unterschrieb einen Verlagsvertrag für einen anderen Roman.

Als ich versuchte, ihn zu schreiben, kam Lilly wieder hervor. Setzte sich auf meinen Schreibtisch, erhob die Stimme. Diesmal hatte sie Emil mitgebracht. Meinen behinderten Onkel, Vaters Bruder, durch die Nazizeit gerettet, auf der Flucht ums Leben gekommen.

Ich gab auf.
Sie waren in der Überzahl, waren stärker als ich.
Im Mai 2012 reiste ich nach Polen.

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Wegewirklichkeit https://der-siebte-sprung.de/wegewirklichkeit/?pk_campaign=feed&pk_kwd=wegewirklichkeit Wed, 26 Feb 2014 07:56:06 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=235 ]]> Wegewirklichkeit Ulrike Draesner #7terSprung
Wegewirklichkeit: für den Roman erfundenes Wort. Teil der spezifischen Erfahrungsrealität einer Flucht.
Hinzukommen, bei den einen: die Kämpfe am Ende des Krieges, das Winterwetter. „Unterkommen“, bei jemandem einschlüpfen. Ausgebombt werden. Alle Wege verstellt. Hunger, Erfrierungen, Schmerzen. Umkehren? Krank sein? Zu dritt ist man aufgebrochen. Nach drei Monaten Flucht ist man nur noch zu zweit. Wegewirklichkeit? Das Glück (und die Dankbarkeit dafür), wenn es überhaupt einen Weg gibt.
Bei den anderen: drei Wochen Fahrt in einem offenen Güterwaggon. Mit fremden Familien viel Gepäck, einem Pferd, einer Kuh. Bewacht von Russen. Stark bewacht. Nichts zu sehen vom Weg. Man ist blind, wird von oben geschmort oder durchnässt. Endlich, der Waggonboden hat ein Loch. Wegewirklichkeit: die vorbeifliegenden Schwellen. In einem Gefängnis fährt man dahin.

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Luger https://der-siebte-sprung.de/luger/?pk_campaign=feed&pk_kwd=luger Wed, 19 Feb 2014 07:08:38 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=191 ]]> Luger -Ulrike Draesner #7terSprung

Luger: eine Pistole, eigentlich 08 oder Parabellum-Pistole, manchmal nach ihrem Konstrukteur, dem Österreicher Georg J. Luger, kurz „Luger“ genannt. Die Bezeichnung „Parabellum“ rührt von dem lateinischen Spruch Si vis pacem, para bellum („Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor“), dem Warenzeichen und der Telegrammadresse der Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken AG in Berlin.
Im Süddeutschen bedeutet das Wort ‚lugen‘ nach jemandem Ausschau zu halten, zu spähen, um eine Ecke zu blinzeln. Über ‚Lug‘ wie in „Lug und Trug“ ist der Name klanglich mit „Lüge“ verbunden. Spähend und gemein komm die Luger-Kugel (böser Reim) um die unwahrscheinlichste Ecke geflogen.

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Schnakala https://der-siebte-sprung.de/schnakala/?pk_campaign=feed&pk_kwd=schnakala Tue, 18 Feb 2014 07:07:51 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=186 ]]> Schnakala-Ulrike Draesner-#7terSprung

Schnakala: schlesisches Kosewort für Enkel. Eine Freundin, die ich noch aus dem Studium kenne, überraschte mich beim Aufschlagen des Romans damit, dass ihr das Wort vertraut war. Meiner Meinung nach stammte sie aus Kiel. Nun unterhielten wir uns über die Herkunftsgeschichten unserer Eltern, die in den 80er Jahren, als wir gemeinsam studierten, keine Rolle spielten. Das lag an unserem Alter, gewiss. Hinzukommt allerdings, dass es keinen gesellschaftlichen Raum gab (zu dem wir hätten gehören wollen), in dem das Thema überhaupt sprechbar gewesen wäre.

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Sei froh, dass du lebst https://der-siebte-sprung.de/sei-froh-dass-du-lebst/?pk_campaign=feed&pk_kwd=sei-froh-dass-du-lebst Sun, 02 Feb 2014 20:38:19 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=130 ]]> Sei froh dass du lebst - Ulrike Draesner-Beitrag

Sei froh, dass du lebst: Ursprünglich stand hier: „Diesen Satz verdanke ich Sabine Bode und ihren mit zahlreichen Kriegskindern geführten Interviews. Viele von ihnen berichteten, dieses „sei froh, dass du lebst“ nach der Flucht bzw. nach dem Krieg häufig gehört zu haben, insbesondere von ihren Müttern. Die jedes Klagen damit im Keim erstickten. Ein erschlagender Satz.“
Was hier stand, ist richtig. Dennoch stimmt es nicht: ich selbst noch habe diesen Satz aus dem Mund meines Flüchtling-Vaters zu hören bekommen. Wenn auch mit kleinen Abwandlungen: „Sei froh, dass es dich gibt“. „Sei froh, dass du im Frieden lebst.“ „Sei froh, wie gut es dir geht“.

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