Flucht – Sieben Sprünge vom Rand der Welt https://der-siebte-sprung.de Ulrike Draesner Thu, 25 Sep 2014 09:00:54 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4 63645751 Zugfahren (1) https://der-siebte-sprung.de/zugfahren/?pk_campaign=feed&pk_kwd=zugfahren Mon, 22 Sep 2014 06:25:00 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=990 ]]> Ein Straßenschild in Oels/Olesnica (ul. Bratnia, Brüderstraße)

Ein Straßenschild in Oels/Olesnica (ul. Bratnia, Brüderstraße)

Simone denkt an Eustachius

Typisch. Stets in Bewegung, der Mann, selbst wenn er saß, und er wollte viel sitzen, weil so die Bewegung gezähmt war, er liebte es, an einem festen Punkt zu verharren, während er sich bewegte, also fuhr er mit dem Auto zu seinen Kongressen, während in der Bahn alles in ihm nur noch stärker in Unruhe geriet, er im Zug auf und ab lief, obwohl sich der Zug ohnehin bewegte, die Mitreisenden bemerkten es natürlich und sahen ihm die mangelnde Sesshaftigkeit an. Wir Kinder hatten das nicht, „wenigstens haben die Kinder das nicht“; man verbot uns das Herumlaufen oder spielte mit uns, so saßen Sandra und ich im Abteil fest, mit den zu kurzen Kinderbeinen, den über dem Boden baumelnden Füßen. Eustachius ließ uns nicht umherlaufen wie die anderen Kinder umherliefen, antiautoritär war ein Luxus, den man sich nur auf dem Boden einer ausgeprägten Sesshaftigkeit leistete, während wir, Sandra und ich, immer so still saßen und so wenig auffielen, dass sich sogar unsere Großeltern Lilly und Hannes in unserer Stille verstecken konnten. Nur der Zug schlängelte sich, einer aus Eisengliedern zusammengesetzten Leine gleich, durch die grasige und narbige Landschaft, vor 40 Jahren waren die Strecken krummer als heute, und Johnny sagte: „Das Wegenetz der Bahn folgt anderen Gesetzen als das Straßennetz“, und Stach sagte: „Das Wegenetz einer Flucht zieht man ein Leben lang hinter sich her.“

Mit dem Beitrag „Simone denkt an Eustachius“ beginnt die neue Serie Wegstücke. Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. Der erste, den wir ihnen in drei Auszügen vorstellen wollen, steht unter dem Titel „Zugfahren“.

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Lastenausgleich https://der-siebte-sprung.de/lastenausgleich/?pk_campaign=feed&pk_kwd=lastenausgleich Thu, 04 Sep 2014 07:43:38 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=840 ]]> Lastenausgleich_571x291

Lastenausgleich: Geldzahlung und Kreditwährung nach dem Gesetz zum Lastenausgleich, das am 1. September 1952 in der Bundesrepublik Deutschland in Kraft trat. Es hatte zum Ziel, Deutschen, die infolge des Zweiten Weltkrieges und seiner Nachwirkungen besondere Nachteile erlitten hatten, eine finanzielle Entschädigung zu gewähren. Die Lastenausgleichsleistungen betrugen bis Ende 1982 insgesamt rund 115 Mrd. DM, waren aber damit noch nicht beendet. Als sogenannte Hauptentschädigung wurde Geld in Relation zum erlittenen Vermögensschaden für Grundstücke, Immobilien, Firmen oder Fabrikanlagen gezahlt. Auslöser für den Lastenausgleichsgedanken war das Ziel, der großen Gruppe der Vertriebenen schnell und effizient zu helfen. Das Lastenausgleichsgesetz definiert sie in § 11. Als Vertriebener galt, wer „als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger seinen Wohnsitz in den zurzeit unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten oder in den Gebieten außerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs nach dem Gebietsstand vom 31. Dezember 1937 hatte und diesen im Zusammenhang mit den Ereignissen des zweiten Weltkriegs infolge Vertreibung, insbesondere durch Ausweisung oder Flucht, verloren hat“.

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Kettenreißen https://der-siebte-sprung.de/kettenreissen/?pk_campaign=feed&pk_kwd=kettenreissen Wed, 16 Apr 2014 06:35:07 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=453 ]]> Kettenreißen #7terSprung Ulrike Draesner

 

Kettenreißen: Spiel auf dem Eis: Der Stärkste zieht auf seinen Schlittschuhen los, andere hängen sich an und fahren mit. In der Kette ist es warm und sicher, man muss nicht nachdenken über den Weg. Hintereinander gleiten, so Lilly, vertrieben aus Breslau, an einem See in München, hintereinander gleiten neue und alte Menschen, führen einander an Jacken, Handschuhen und Ärmeln, bis der Vorderste einen Schuh aufkantet, steht. Die Kette rollt sich dank ihrer Beschleunigung von selbst um ihn; das rasende äußere Ende hin­gegen wird weit hinausgerissen, der letzte Läufer schleudert auf den See, dorthin, wo der Eisboden brüchig wird.

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Kuckucksuhr https://der-siebte-sprung.de/kuckucksuhr/?pk_campaign=feed&pk_kwd=kuckucksuhr Thu, 03 Apr 2014 07:43:09 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=431 ]]> Kuckucksuhr #7terSprung Ulrike Draesner

die Kuckucksuhr: Was haben Autoren und ihre Figuren miteinander zu tun? Beantworten kann das keiner, aber Geschichte lassen sich dazu erzählen. So auch diese: als Kind schlich ich manches Mal nachts in die Diele zwischen dem Schlafzimmer meiner Eltern, meiner Schwester und dem meinen, und hielt die Kuckucksuhr an. Hatten die anderen keine Ohren? Wie konnten sie dieses Rufen ertragen, diesen Vogel, der so gnadenlos die Stunden wegschrie? Im Wald mochte ich ihn, auch wenn mein schlesischer Großvater meinte, an der Zahl der Rufe die Jahre ablesen zu können oder zu müssen, die ihm zum Leben noch blieben.

Die Uhr war nicht ererbt – wer hätte ein so sperriges Werk in einen Fluchtkoffer gepackt. Dennoch war deutlich: Hannes, die Großvaterfigur des Romans, kam mit einer Kuckucksuhr auf mich zu. Historisch-biographisch richtig ist das nicht.

Die Figur liebt die Kuckucksuhr. Sie ist ein Stück zuhause.

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Kleines Vaterland, małą ojczyznę https://der-siebte-sprung.de/kleines-vaterland-ma-ojczyzn/?pk_campaign=feed&pk_kwd=kleines-vaterland-ma-ojczyzn Tue, 01 Apr 2014 08:49:25 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=422 ]]> Matthiasplatz in Wroclaw #7terSprung Ulrike Draesner

kleines Vaterland, małą ojczyznę: Halina, 1945 aus Lemberg nach Wrocław vertreiben, viele Jahre später:

„Heim-ge-sucht, hatte Daidanek mir beigebracht.

Nun konnte ich sie sehen, Wrocławs Mildigkeit, von der Tatuś einst gesprochen hatte. Sie lag auf den Katzenköpfen nach einem Regen, umfloss die Büsche, die wieder blühten am Matthiasplatz, breitete sich über Hausdächer halb im Schatten, halb im Sonnen­schein. Die Vögel sangen auch ohne Plan, sie profitierten vom Sozialismus: Löcher in Hauswänden, zahlreiche Brutnischen, Samenflug. Noch vor der Morgendämmerung zog ihr Gesang unsichtbare Risse in die Reste der Nacht, mein Herz schlug im Dreischritt, Tomasz-Boris-ich, Adam-Heinrich-ich, Heinrich-Boris-ich. Dreischritt, um nicht zum Zweitakter zu werden, um nicht zu pochen zwischen früher und jetzt, Fremde und Heimat, gut und schlecht, um nicht zu pochen: Flüchtling, Flüchtling, Idiot.

Gleichwohl hatten Tomasz, Boris und ich ein Zuhause, »kleines Vaterland«, małą ojczyznę, ein postdeutsches Schwimmbad und eine postdeutsche Oder. Über Mutter hing eine Gloriole goldener Lembergerinnerungen: Je älter sie wurde, umso überzeugender machte sie sich neuerlich zu einer einzigen Person. Sie löschte, dass man sie durchgeschnitten und ihr Leben geteilt hatte, indem sie kurzerhand den zweiten Teil, ihre Gegenwart, vergaß. Ab und an, wenn sie mit Boris spielte, blitzte ihr unvermutet die alte Munterkeit aus den Augen. An anderen Tagen saß sie da und streichel­te stundenlang ihren Lemberger Flakon.“

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Rucksack der Flucht https://der-siebte-sprung.de/rucksack-der-flucht/?pk_campaign=feed&pk_kwd=rucksack-der-flucht Sat, 08 Mar 2014 09:00:03 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=354 ]]> Karolina Kozak und ihre Mohnmühle

(Polski: Bagaż – Übersetzung: Karolina Kuszyk)

Karolina Kozak in einem Dörfchen vor Wrocław empfing uns, weil sie sich den Deutschen verbunden fühlte, in „deren Haus“ sie lebte. Sie empfand es noch immer so. Durch Dinge sprach sie mit mir: die alte schlesische Mohnmühle, die Bügel- und Plättvorrichtung aus grobem Holz im Schuppen, zwei dunkelgrüne Eimer mit dem Aufdruck „Schlesische Gießereien Liegnitz“.

Recherchen für Romane folgen eigenen Gesetzen. Man sucht etwas, wovon man nur ahnt, was es sein könnte. In Polen fand ich die Vokabel ‚pjeroństwo‘ und ihr schlesisches Pendant ‚Pieronstwo‘ (Kram, Zeug), fand Bezeichnungen wie postniemiecki, post- oder nachdeutsch, für die Jahrzehnte, in denen alles nebeneinander existierte: die mitgebrachten ostpolnischen Dinge, das vorgefundene deutsche „Hab und Gut“, die neue sozialistische Produktion, die Bastelei.

 

Stefania Wróbels Herkunftsfamilie war deutsch. Horst Konietzny, der die Tonaufnahmen machte, und ich besuchten sie in Sobótka am Fuß des Zobtens. Als im Januar 1945 alles floh, lag Stefanias Großmutter im Sterben, die Familie kam nicht fort. Nur zu gut scheint Stefania, die später einen Polen heiratete, sich an das Kriegsende zu erinnern. Naturgemäß, sprich: einer deutsch- wie polnisch-schlesischen Tradition folgend, bietet sie uns selbstgebackenen Streuselkuchen an. Wenn sie spricht (dieses melodiöse Deutsch), wenn ich ihr ins Gesicht blicke, den Wangen-Augen-Schnitt sehe, den mäusischen Augenausdruck, der aufzublitzen versteht, fühle ich mich zurückversetzt an den Großmuttertisch.

 

Rechtfertigungen, Verluste der Erinnerung, des Selbst. Vergangenheit und Gegenwart trennen sich nicht. Eine Schreib-Möglichkeit, die langsam entsteht: polyphone Kontinuität.

Übergänge zwischen den Figuren  – durch motivische Tunnel.

Ichs, die wegrutschen, durch Sprache gleiten.

Heimat nur mehr in der Erinnerung, in Wortfolgen, verderbten Bildern.

 

Die Verluste wogen schwer, mancher zerbrach daran. Andere betonten den Aufbruch, ihren Glauben an eine neue Gesellschaft. Den Rucksack der Flucht trugen sie alle ein Leben lang.

Er blieb unsichtbar für jene, die die Entwurzelung nicht teilten. Immer wieder während der Recherchezeit fällt mir auf, wie gut es gelang, dieses „Gepäckstück“ zu verstecken. Doch das stimmt nur halb. Nach innen, vor Freunden, allesamt ebenfalls aus dem Osten vertrieben, sprachen meine Großeltern über nichts anderes. Andere, Einheimische, Ansässige, Verwurzelte, wollte man nicht belasten bzw. sich selbst nicht dem Risiko aussetzen, sich eine Abfuhr zu holen. Gewiss, es gab die Vertriebenenverbände und ihr lautes Auftreten. Was aber tat jemand, der das nicht mitmachen wollte?

Innenräume bilden sich, Kammern, nicht dunkel, nur dämmrig. In der kalten neuen westlichen Heimat ebenso wie in Wrocław. Da weiß mancher nicht aus, nicht ein, verliert sein Körpergefühl, treibt durch Luft. Die nächste Generation versteht kaum, wer sie ist. Als bewegliche Teilchen erzeugt? Kinder nach dem Krieg.

Etwa 12 Millionen Deutsche sollen ab dem Herbst 1944 von Osten Richtung Westen gezogen sein. Im alt-neuen polnischen Raum spricht man von 30 Millionen Migranten. Doch wie will man gezählt haben? Viele brachen mehrfach auf, viele kamen niemals an.

Die Finsterlichkeiten, durch die sie fuhren, noch fahren.

Weitere Interviews in der Playlist Der siebte Sprung auf soundcloud.

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Erste Quellen https://der-siebte-sprung.de/erste-quellen/?pk_campaign=feed&pk_kwd=erste-quellen Wed, 05 Mar 2014 08:48:23 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=681 ]]> (Polski)

  • Atlas Zwangsumsiedlung, Flucht und Vertreibung. Ostmitteleuropa 1939-1959, Warschau 2009
  • G.E.M. Anscombe, Absicht, FFM 1978
  • Sabine Bode, Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen, München 2005
  • Dies., Kriegsenkel. Die Erben einer vergessenen Generation, Stuttgart 2009
  • Dies., Die deutsche Krankheit – German Angst, München 2008
  • Julia Fischer, Affengesellschaft, Berlin 2012
  • Hugo Hartung, Schlesien 1944/45, Aufzeichnungen und Tagebücher, München 1976
  • Helga Hirsch, Entwurzelt. Vom Verlust der Heimat zwischen Oder und Bug, Hamburg 2007
  • Andreas Kossert, Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2009
  • Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011
  • Gregor Thum, Die fremde Stadt. Breslau nach 1945, München 2003
  • Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung menschlichen Denkens. FFM 2002
  • Michael Tomasello, Why We Cooperate, MIT 2009
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Essay (2) https://der-siebte-sprung.de/rendez-vous-2-7tersprung/?pk_campaign=feed&pk_kwd=rendez-vous-2-7tersprung Tue, 04 Mar 2014 08:40:29 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=306 ]]> Aus Ulrike Draesners Reisenotizbuch #7terSprung

Teil 2 von Ulrike Draesners Essay zum Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“. Teil 1 finden Sie hier.

Sabine Bodes vor knapp zehn Jahren erstmals veröffentlichte Interviews mit Kriegskindern, Menschen der Jahrgänge 1930 bis Anfang der 40er Jahre, die die Zeit des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg mit all seinen Folgen als Kinder bzw. Jugendliche erlebten, halfen mir weiter. Vieles von dem, was ich las, erkannte ich wieder; Wege in die ebenfalls erst in den letzten beiden Jahrzehnten entwickelte Forschung zu Phänomenen transgenerationeller Übernahme von Traumata und zu Phänomenen wie postmemory öffneten sich.

 

Seit ich an dem Roman schrieb und manchmal von meinem Thema erzählte, hörte ich Geschichten von „seltsamen“ Träumen und Ängsten – Bilder im eigenen Kopf, die als fremd empfunden wurden. Sie stammten aus dem Leben eines Elternteiles. Offenbar werden nicht nur Gewohnheiten, Denk- und Emotionsmuster zwischen den Generationen weitergegeben. Studien zu Kindern traumatisierter Erwachsener sprechen von einem unbewussten „holding“ und „containing“, das Kinder ihren Eltern gewähren: sie spüren deren unaussprechbaren Schmerz, versuchen, die Erwachsenen zu halten und zu unterstützen, ja, „beherbergen“ sie in sich, erleben „an Stelle“, werden als Selbstobjekte funktionalisiert.

Familiäre Weitergabe: zart und brutal.

Verschiebungen des Gedächtnisses, der Psyche, der Seele. Schraffuren (auch) der Sprache. Menschen, denen „es“ den Rahmen verzogen hat. „Es“, das Geschehen – und die innere Beteiligung daran. „Es“: Die Übermacht von außen (gezwungen, bedroht, verfolgt, ausgesetzt) – und die Fragen danach, woher „es“ kam.

Wie, fragte ich mich, sollte es möglich sein, davon zu erzählen?

Irgendwann – seltsames „irgendwann“, wenn ich versuche, mich an Schreibspuren zu erinnern –, fand ich die Lösung. Ich musste einen multi-logischen Roman schreiben. Multi-logisch in der doppelten Bedeutung des Wortes: verschiedenen Lebenswahrheiten folgend, von verschiedenen Seiten her gesprochen.

Als ich las, wie von Ostpolen nach Schlesien vertriebene Polen ihre Erlebnisse sowie ihr Leben nach der sogenannten „Heimkehr“ schilderten, löste sich der Knoten. Die Idee für die Form des Romans kam aus dem Material. Da lebten Menschen aus Lemberg in dem von Deutschen geräumten Wrocław und sehnten sich in die Heimat zurück, mit Bildern, Schmerzen und Liebesgefühlen ähnlich jenen, mit denen Flüchtlinge aus Breslau im Westen saßen und in den verlorenen Osten blickten. Überraschender und stärker als die Unterschiede zwischen diesen Menschen waren die Spiegelungen. Die Auswirkungen des Heimat- und damit häufig verbundenen Familienverlustes; die induzierte äußere wie innere Verzogenheit.

Das Thema trifft uns und unsere Nachbarn. Erzählbar wurde es durch eine Kreuzung: im Roman bewegen sich eine polnische und eine deutsche Familie hintereinander her nach Westen, verfolgen sich, ohne sich zu kennen. In einer späteren Generation schneiden sich ihre Wege; bei ihren Kindern führen sie wieder auseinander.

Sowohl bei deutschen wie bei polnischen Zeitzeugen fand ich Spaltungen, Gedanken- und Gefühlsfluchten in nostalgische Vergangenheitsräume, die Weitergabe des Gefühls, selbst falsch zu sein. Ich hörte und las von Verlusten und Abenteuerlust, Aufbruchsnöten und Untergängen, von der Zerschlagung eines kulturell und sprachlich gemischten Raumes, begegnete Leugnung und Sehnsucht, Lüge und Mimikry.

Seltsam distanziert, von Unterbrechungen heimgesucht, durchzogen von Wutausbrüchen, Ängsten, Träumen von Sicherheit.

Noch einmal versuchte ich, mich vor dem Roman in Sicherheit zu bringen. Ich wiederholte die Geste meines Vaters: ich floh vor der Flucht – und unterschrieb einen Verlagsvertrag für einen anderen Roman.

Als ich versuchte, ihn zu schreiben, kam Lilly wieder hervor. Setzte sich auf meinen Schreibtisch, erhob die Stimme. Diesmal hatte sie Emil mitgebracht. Meinen behinderten Onkel, Vaters Bruder, durch die Nazizeit gerettet, auf der Flucht ums Leben gekommen.

Ich gab auf.
Sie waren in der Überzahl, waren stärker als ich.
Im Mai 2012 reiste ich nach Polen.

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Essay (1) https://der-siebte-sprung.de/rendez-vous-7tersprung/?pk_campaign=feed&pk_kwd=rendez-vous-7tersprung Mon, 03 Mar 2014 08:30:40 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=288 ]]> 1. Rendez-vous

Sich umzudrehen ist gefährlich. Lots Frau erstarrt zur Salzsäule. Sich umzudrehen ist schön: Wer sich dreht, sieht mehr. Liebe Hoffnung Glück. Glückliche Räume. Wie wird etwas gerade, wie rund? Wie hängt man es auf: hält es fest, erinnert sich daran, stellt es dar?
Die Idee, einen Roman zum Thema Flucht und Vertreibung zu schreiben, jenen Weg, auf dem man sich ständig umdreht, ohne umdrehen zu können, einen Roman zu schreiben zu dem Familienthema, das meine Kindheit bestimmte, sprach ich an einem Nachmittag des Sommers 2005 das erste Mal aus. Mein damaliger Lektor und ich gingen die Immanuelkirchstraße in Berlin hinauf. Holpriger Gehweg, Birnbäume, schimmernde Straßensteine. Das „Projekt“ verunsicherte mich: war es eine gute Idee, so biographisch zu werden?
Ulrike Draesner auf der Liebighöhe Bild Horst Konietzny

Meine Romane waren in der dritten Person geschrieben, weiter entfernt von mir. Das „ich“ erschien mir als schwierigste aller Perspektiven. Wie „ich“, ohne ich zu sein, doch mit allem, was ein Ich braucht, um lebendig zu werden?

 

Ich hatte schon angefangen, mich mit diesem Anfang selbst überrascht: mitten im Schreiben eines anderen Romans die Stimme „meiner“ Großmutter gehört und notiert. Die Stimme sprach davon, dass sie sich an den letzten Tag zuhause nicht erinnern konnte; es handelte sich um den 18. Januar 1945 in der kleinen schlesischen Stadt Oels, gut dreißig Kilometer nordöstlich von Breslau. Ich kannte das Städtchen, 1984 hatte ich es mit meinem Vater besucht. Was „meine Großmutter“ nun sagte, hätte sie „im Leben“ nie gesagt. Die Figur, Lilly, rutschte und sprach in Brechungen, ein Balken ragte durch ihr Gedächtnis. Der letzte Tag zuhause: verschwunden. Und sie selbst: aus sich verschoben. Verzogen.

 

Temporary Registration Maria Draesner Oels Niederbayern #7terSprung

Die Stimme meiner Großmutter-Nichtgroßmutter kam von der Nicht-Erinnerung nicht los. 18 Seiten stürzten aus mir heraus. Dann hörte ich auf.

 

Selbstüberraschungen: die wertvollsten, schlimmsten, seltsamsten Momente des Schreibens? Das Thema lag vor mir, ein kaltes Kapitel meiner eigenen Biographie, undurchdrungen. Meine Vaterfamilie, Lebensfragen bis heute hingen daran (warum verstand mein Vater von manchem so wenig, warum war er deprimiert, schweigsam, eigenbrötlerisch, wer waren seine Dämonen, welche Rolle spielte ich bei seinem Kampf mit ihnen?). Was hatte ich damit zu tun?

Rasch zog ich mich zurück.

 

Während meiner Kindheit hatte ich die Jahre 1933-45 als tief versunkene Vergangenheit wahrgenommen, „der Krieg“ ein Krieg der Großeltern. Schon meine Eltern hatten ihn „nur“ als Kinder erlebt. Erst als ich 30 wurde, dämmerte mir allmählich, wie stark das Bild und die Deformationen einer versehrten Gesellschaft mein Aufwachsen bestimmt hatten. Es war zu erwarten, dass sie untergründig weiterwirkten. Dachte ich an das München der 60er Jahre, sah ich Straßenbahnen mit Sitzplätzen für Kriegsversehrte, verstümmelte alte Männer, die Stöcke schwangen, humpelten, schwiegen. Männer mit Eisenhänden machten mir besondere Angst, ihre Versehrung trat so deutlich zu Tage.

Auch bei anderen, die es nicht körperlich zeigten, war sie zu spüren.
Davon erzählen?
Doch wie?

Ich verschob die Entscheidung, obwohl ich inzwischen wusste, welche Fragen mich umtrieben: Wie wirken Traumatisierungen, wenn Kinder sie erleiden?

Wie geben Menschen weiter, was sie nicht erzählen, nicht aussprechen, oft genug nicht einmal willentlich erinnern können?

(Fortsetzung am 4. März 2014)

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Wegewirklichkeit https://der-siebte-sprung.de/wegewirklichkeit/?pk_campaign=feed&pk_kwd=wegewirklichkeit Wed, 26 Feb 2014 07:56:06 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=235 ]]> Wegewirklichkeit Ulrike Draesner #7terSprung
Wegewirklichkeit: für den Roman erfundenes Wort. Teil der spezifischen Erfahrungsrealität einer Flucht.
Hinzukommen, bei den einen: die Kämpfe am Ende des Krieges, das Winterwetter. „Unterkommen“, bei jemandem einschlüpfen. Ausgebombt werden. Alle Wege verstellt. Hunger, Erfrierungen, Schmerzen. Umkehren? Krank sein? Zu dritt ist man aufgebrochen. Nach drei Monaten Flucht ist man nur noch zu zweit. Wegewirklichkeit? Das Glück (und die Dankbarkeit dafür), wenn es überhaupt einen Weg gibt.
Bei den anderen: drei Wochen Fahrt in einem offenen Güterwaggon. Mit fremden Familien viel Gepäck, einem Pferd, einer Kuh. Bewacht von Russen. Stark bewacht. Nichts zu sehen vom Weg. Man ist blind, wird von oben geschmort oder durchnässt. Endlich, der Waggonboden hat ein Loch. Wegewirklichkeit: die vorbeifliegenden Schwellen. In einem Gefängnis fährt man dahin.

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