POLNISCHE QUELLEN – Sieben Sprünge vom Rand der Welt https://der-siebte-sprung.de Ulrike Draesner Sun, 17 Aug 2014 12:33:45 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4 63645751 Rucksack der Flucht https://der-siebte-sprung.de/rucksack-der-flucht/?pk_campaign=feed&pk_kwd=rucksack-der-flucht Sat, 08 Mar 2014 09:00:03 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=354 ]]> Karolina Kozak und ihre Mohnmühle

(Polski: Bagaż – Übersetzung: Karolina Kuszyk)

Karolina Kozak in einem Dörfchen vor Wrocław empfing uns, weil sie sich den Deutschen verbunden fühlte, in „deren Haus“ sie lebte. Sie empfand es noch immer so. Durch Dinge sprach sie mit mir: die alte schlesische Mohnmühle, die Bügel- und Plättvorrichtung aus grobem Holz im Schuppen, zwei dunkelgrüne Eimer mit dem Aufdruck „Schlesische Gießereien Liegnitz“.

Recherchen für Romane folgen eigenen Gesetzen. Man sucht etwas, wovon man nur ahnt, was es sein könnte. In Polen fand ich die Vokabel ‚pjeroństwo‘ und ihr schlesisches Pendant ‚Pieronstwo‘ (Kram, Zeug), fand Bezeichnungen wie postniemiecki, post- oder nachdeutsch, für die Jahrzehnte, in denen alles nebeneinander existierte: die mitgebrachten ostpolnischen Dinge, das vorgefundene deutsche „Hab und Gut“, die neue sozialistische Produktion, die Bastelei.

 

Stefania Wróbels Herkunftsfamilie war deutsch. Horst Konietzny, der die Tonaufnahmen machte, und ich besuchten sie in Sobótka am Fuß des Zobtens. Als im Januar 1945 alles floh, lag Stefanias Großmutter im Sterben, die Familie kam nicht fort. Nur zu gut scheint Stefania, die später einen Polen heiratete, sich an das Kriegsende zu erinnern. Naturgemäß, sprich: einer deutsch- wie polnisch-schlesischen Tradition folgend, bietet sie uns selbstgebackenen Streuselkuchen an. Wenn sie spricht (dieses melodiöse Deutsch), wenn ich ihr ins Gesicht blicke, den Wangen-Augen-Schnitt sehe, den mäusischen Augenausdruck, der aufzublitzen versteht, fühle ich mich zurückversetzt an den Großmuttertisch.

 

Rechtfertigungen, Verluste der Erinnerung, des Selbst. Vergangenheit und Gegenwart trennen sich nicht. Eine Schreib-Möglichkeit, die langsam entsteht: polyphone Kontinuität.

Übergänge zwischen den Figuren  – durch motivische Tunnel.

Ichs, die wegrutschen, durch Sprache gleiten.

Heimat nur mehr in der Erinnerung, in Wortfolgen, verderbten Bildern.

 

Die Verluste wogen schwer, mancher zerbrach daran. Andere betonten den Aufbruch, ihren Glauben an eine neue Gesellschaft. Den Rucksack der Flucht trugen sie alle ein Leben lang.

Er blieb unsichtbar für jene, die die Entwurzelung nicht teilten. Immer wieder während der Recherchezeit fällt mir auf, wie gut es gelang, dieses „Gepäckstück“ zu verstecken. Doch das stimmt nur halb. Nach innen, vor Freunden, allesamt ebenfalls aus dem Osten vertrieben, sprachen meine Großeltern über nichts anderes. Andere, Einheimische, Ansässige, Verwurzelte, wollte man nicht belasten bzw. sich selbst nicht dem Risiko aussetzen, sich eine Abfuhr zu holen. Gewiss, es gab die Vertriebenenverbände und ihr lautes Auftreten. Was aber tat jemand, der das nicht mitmachen wollte?

Innenräume bilden sich, Kammern, nicht dunkel, nur dämmrig. In der kalten neuen westlichen Heimat ebenso wie in Wrocław. Da weiß mancher nicht aus, nicht ein, verliert sein Körpergefühl, treibt durch Luft. Die nächste Generation versteht kaum, wer sie ist. Als bewegliche Teilchen erzeugt? Kinder nach dem Krieg.

Etwa 12 Millionen Deutsche sollen ab dem Herbst 1944 von Osten Richtung Westen gezogen sein. Im alt-neuen polnischen Raum spricht man von 30 Millionen Migranten. Doch wie will man gezählt haben? Viele brachen mehrfach auf, viele kamen niemals an.

Die Finsterlichkeiten, durch die sie fuhren, noch fahren.

Weitere Interviews in der Playlist Der siebte Sprung auf soundcloud.

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Breslau – Wroclaw 1945 (2) https://der-siebte-sprung.de/breslau-wroclaw-1945-essay-teil-3-2/?pk_campaign=feed&pk_kwd=breslau-wroclaw-1945-essay-teil-3-2 Fri, 07 Mar 2014 07:15:43 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=347 ]]> Breslau Wroclaw 1945-heute Ulrike Draesner

(Polski:  Breslau – Wroclaw 1945 Übersetzung: Karolina Kuszyk)

Rauchend, staubig, chaotisch, ein von Menschenströmen durchzogener „Topf“. „Repatrianten“ treffen aus Ostpolen und dem sowjetischen Reich ein, Zuzügler aus Zentralpolen, Heimkehrer aus dem Westen. Durch die Straßen irren nichtvertriebene Deutsche, Zwangsarbeiter, kriegsgefangene Deutsche, befreite Kriegsgefangene der Deutschen, aus Lagern befreite Gefangene des Naziregimes, polnische und sowjetische Soldaten, Polizei und Geheimpolizei, elternlose Kinder und Jugendliche, Alte und Kranke, Menschen mit hybriden, gemischten Herkünften, jeder auf der Suche nach einem, „seinem“ Weg, aufgebrochen und zurückgeworfen, festgehalten, gestrandet, mittellos, zwischen marodierenden Banden von Dieben und Räubern, zwischen Hungernden, Mittellosen, Verletzten verletzt unterwegs.

Viele der ostpolnischen Flüchtlinge stammen vom Land. Sie geraten in eine Stadt, ohne zu wissen, wie Stadtleben „geht“. Andere, aus Lemberg, sind entsetzt über die Menschen, mit denen sie nun zusammenleben sollen. Ich fragte: Wie wurde verteilt? Wie kaufte man ein? Wer organisierte was?

2005 hatte mir ein polnischer Dichterkollege, Tomasz Rózycki, bei einem Poesiefestival in Paris auf dem Hotelflur erzählt, wie seine Familie aus Ostpolen in das deutsche Haus in Oppeln einzog, in dem sie bis heute lebte. Jahrelang war man fremd geblieben, die Fluchtkoffer fertig gepackt unterm Bett. Die Deutschen kehrten gewiss zurück! Man erwartete den Dritten Krieg. Damals, in dem dämmrig-plüschigen Pariser Hotelflur, waren mir die Augen aufgegangen. Was Rózycki sagte, lag nahe, vorgestellt hatte ich es mir nie: das Ankommen in der Wohnung von Fremden. Das Nehmen und das mit diesem Nehmen leben Müssen, die Gefühle des Einkriechens und der Scham, der Not, Wut und Abhängigkeit, die gespenstische Anwesenheit der Bis-eben-Eigentümer.

Leben in einem fremden Kokon.

Die 1945 aus Ostpolen vertriebenen Zeitzeugen, die ich in Wrocław traf, sprachen von ihren Kindheiten in der Ukraine in den 40er Jahren, von Sowjets und Deutschen, von einer endlosen, beängstigenden Fahrt im Sommer 1945 Richtung Westen, über Wochen hinweg, in offenen Güterwaggons mit anderen Menschen, Vieh und Gepäck. Die Ankunft in Wrocław oder den es umgebenden Dörfern indes schien versunken, aufgesogen vom schwarzen, grauen und roten Staub der zerbombten und zerschossenen Stadt, von ihrem Feuerlicht. Mir halfen Fragen nach dem Schwarzmarkt (Szaber) oder nach den Abenteuergefühlen eines Jungen von zehn Jahren, nach dem Spielzeug, das er fand.

Eindrücke auch im Film von Horst Konietzny über diese Recherchereise auf der Seite der Robert-Bosch-Stiftung.

(Bild: Screenshot aus dem Film von Horst Konietzny)

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Wroclaw 1945 (3) https://der-siebte-sprung.de/wroclaw-1945-essay-3-7tersprung/?pk_campaign=feed&pk_kwd=wroclaw-1945-essay-3-7tersprung Thu, 06 Mar 2014 08:44:34 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=340 ]]> Viktoriastraße ul.Lwowa Mitte 1945 Foto Krysztyna Gorazdowska C Architekturmuseum Wroclaw

Dies ist Teil 3 des Essays zum Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt. Zu den vorhergehenden Teilen: Rendez-vous 1 und 2 sowie Recherche und Erfindung 1 und 2.

(Wroclaw 1945 polski)

29. Mai 2012. Ich sitze in einem Appartement in der Ulica Więcienna in Wrocław. Kahles Treppenhaus, 4. Stock. Hinter den Sicherheitsschlössern öffnet sich der Blick auf den Turm der Elisabethkirche an der Nordwestecke des Ringes. Ich höre die Tonaufnahmen des Tages nach: das Polnisch der Zeitzeugen, das Deutsch der Dolmetscherin, der östliche Akzent, das Holpern hie und da beim Durchqueren der eigenen Erinnerung.

Ich fragte nach den Bedingungen der Flucht Richtung Westen, nach Breslau-Wrocław im Sommer 1945, nach Aufbruchsstimmung und Abenteuergefühl, Rückschlägen und Verlusten, nach politischen Konsequenzen, verordneten Lügen, nach Künsten des Nehmens, Vergessens und Sehens.

Ich hörte: spröde Berichte. Erklärungen. Emotionen, manchmal lange versunken, manche oft erzählt. Hörte von Verhaltensweisen, die die Betroffenen sich selbst nicht zu erklären wussten, nahm Gefühle in Versprechern der Erzählenden oder der Übersetzerin wahr. Ich betrachtete Gesichter, den Fall alter Wangen, dachte an meinen Vater, glaubte, Sprechweisen und Stockungen wiederzuerkennen. Schlesisches Himmelreich: ich erinnerte mich an die Sprachmelodie meiner Großeltern und ihrer Vertriebenenfreunde, ihren mir angenehmen, melodischen Duktus, „die andere Sprache“: die Karpengusche, das Weiche. Sah Spuren davon wieder, in einem polnischen Gesicht.

Gespräche, viele Stunden lang, Tag um Tag.

Im Vorfeld der Reise war mir klar geworden, dass ich, was Schlesien betraf, für lange Zeit unbewusst, jedenfalls unbedacht, die Haltung meiner Großeltern übernommen hatte: dieses Land war untergegangen. Jetzt kam ich in der Wirklichkeit an: Wrocław im Sommer 1945.
Auszüge aus Tagebüchern hatte ich noch zuhause gelesen:

„Es stimmt nicht, dass alle Ruinen in ihrem Ausdruck gleich sind. Ruinen bewahren immer den Charakter und die Individualität der lebenden Stadt. Das zerstörte Breslau ist bislang eine widerborstige und feindliche Stadt – besiegt, kraftlos, und doch weiterhin noch zu erobern. In den zerstörten Straßen, den kaputten Häusern quält sich irgendeine Suggestion einer schweren Lähmung, als seien all diese zerborstenen Mauern mit dem ganzen Gewicht für immer eingestürzt, selbstmörderisch, verzweifelt.“ (Maria Jarcyńska-Bukowska, 1946)

Bild: Viktoriastraße Breslau (ul.Lwowa), Mitte 1945 Foto Krysztyna Gorazdowska (c) Architekturmuseum Wroclaw

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