Zugfahren (3)

Matthiasplatz, Wrocław, Mai 2012. In der Nähe liegt Halka in einem Garten - im Mai 1945.

Matthiasplatz, Wrocław, Mai 2012. In der Nähe liegt Halka in einem Garten – im Mai 1945.

Halkas erster Morgen in Wrocław, Ende Mai 1945

Sonnenstrahlen brachen durch die Ligusterhecke, Vögel warfen sich aus der halb verbrannten Kastanie ins Gebüsch. Ein weißes Netz Tau lag auf den Grashalmen, in der diesigen Luft hingen Rauchwolken. Sie zogen Richtung Westen, Richtung Westen blase der Wind hier am liebsten, hatte der Junge gestern Abend gesagt.
Sein Wachplatz am Gartentürchen war leer.
Egal. Die niedergebombte, staubige Stadt, das Ziel von drei Wochen Fahrt – eine Enttäuschung, egal. Trotzig und deutsch, Trümmerwelt. In Trümmerwelten schien die Sonne, das lernte ich rasch, gnadenlos, ihr Licht vermehrte sich tausendfach an den Partikeln der Luft, schmolz den Kopf, und matschig und benommen schlug auch mein Herz. Süßliche Schwaden drangen aus den Hausruinen, roter Staub lag auf meinen Armen, meinem Mantel, bestimmt auch auf meinem Gesicht. Ich musste aufs Klo, aber regte mich nicht; nach 21 Tagen Güterwaggon war ich an Schmerzen in der Blase, im Magen, in den Därmen gewöhnt. Offensichtlich hatte ich drei Wochen in einem ratternden Alptraum verbracht, um in einem goldenen, stinkenden Garten zu enden, bewacht von einer Leiche. Der Boden bebte nicht ausreichend, um echt zu sein, der Wirklichkeit fehlte ohne das Holpern über endlose Schwellen ein Stück Überzeugungskraft. Nur ich lag da, zitternd auf einer fremden Plane zwischen Vögeln und Rauch, in einem neuen beklemmenden Traum.
Der Sonnenkäfer kroch von meinem Arm auf meine Brust. Ich schloss die Augen und tat vor mir selbst, als wäre alles in Ordnung, als warte ich in der Laube auf Mutters: „Halina, dein Kakao“, wie wartete ich darauf, sicher und behütet zuhause, und all die Zeit über, die ich starr lag, die ich mir im Geist friedlich rückte, still, ohne Explosionen, ohne Schüsse, ohne Feuerprasseln, übte ich so zu atmen, dass man es nicht sah, übte zu atmen, als wäre ich tot, lag als meine eigene Schutzleiche da.
Quer durch mein Gehirn – nie war ich allein gereist, nichts als Lemberg und Umgebung, Polen und seine ukrainischen Wälder kannte ich –, wanden sich Erinnerungen aus anderen Leben.
Das war nun jeden Tag so, jeden Tag ein anderes Leben. Das vom Vortag, inzwischen unvorstellbar, gelöscht, hatte auf dem zerschossenen Perron des Stadtbahnhofs östlich vor Wrocław begonnen: Wie hatte ich mich gefreut, nach all den Stunden des Wartens wenigstens meine Eltern in einem rostig grünen Kasten verschwinden zu sehen, auch wenn ich selbst beim besten Willen nicht mehr hineinpasste in diesen neuen, die Güterwaggons aus Lemberg ersetzenden Zug. „Komm nach“, quoll Vaters Stimme dumpf aus dem Menschenpulk, und mir, der Behüteten, schwankte, obwohl ich seit Stunden auf dem festen Land des Bahnsteigs stand, vor Aufregung der Boden unter den Füßen. Halka, das Küken, würde das schaffen, ganz allein. Das Küken, volle 21 Jahre alt, konnte fliegen! Ich würde es Leszek und Grazyna zeigen. Und mir.
Was sich zeigte: wie viel Zuversicht und Stärke mit einem Elternpaar abfahren kann.
Kaum waren sie fort, ließ ich mich dort, wo ich stand, auf dem Boden nieder und versuchte, unsichtbar zu werden. Neben mir glitten Rosenkränze durch Finger, die vertrauten Worte wurden gemurmelt, ich murmelte unhörbar „ich schaffe das“, „ich schaffe das“. Die Bauern besaßen noch immer genug zu essen, einige kochten sogar Kasza, offensichtlich hatten sie vorm Bahnhof frische Lebensmittel getauscht. Der Nachbar links schenkte mir ein Glas schwarzen Tees, so stark, dass alles Licht darin verschwand. Über uns knarrte das von Kugeln durchlöcherte Bahnhofsschild „Oels“ an zwei rostigen Ketten im Mittagswind.
Seit der Ankunft in diesem Oels hatte Vater herrlichste Laune verbreitet: alles war besser als mit drei anderen Familien, Unmengen von Gepäck, einer Kuh und einem Panjepferd einen offenen Güterwaggon zu teilen, bei Regen und Hitze in die Ecke unter der Plane gedrängt, zu trocken, zu nass, zu windig, zu wehrlos. Man hatte uns erlaubt, 30 Kilo pro Person einzupacken, jedes Kleinkind oder Baby zählte, bei manchen Familien kam fast der gesamte Hausstand mit, dazu Geflügel und Vieh. Immer wieder hatten auf der Strecke Rotarmisten den Zug umzingelt, angeblich, um uns vor Räubern und Mördern zu schützen. Wir bezahlten sie mit Bimber und Schmuck, hockten im Waggon, schrien, wurden geschüttelt, hatten Angst, tranken den Bimber selbst. 21 Tage starrten wir darauf, wie unser Land unter uns davonglitt, die Löcher im Boden des Waggons waren so groß, dass ein Fuß hindurchpasste, ein Kind. Regen, Sonne, Sterne und Mond zogen durch unsere Augen und Münder in uns hinein, neben uns taumelten die huzulischen Kelime der anderen, bald einkassiert von den russischen Wachen, ein Vogelkäfig, drei Samoware, bald einkassiert von den russischen Wachen, zusammengeknotete Decken, Strohmatten, Schnapsflaschen, bald einkassiert von den russischen Wachen, Bündel getrockneten Fischs. Darauf türmten wir uns, traurige, austrocknende Menschen auf einer gefährlichen, demütigenden, abstumpfenden Fahrt, ständig erpresst, dauerhaft rechtelos, obwohl wir von Zuhause nach Hause fuhren, nach Polen.
An meinem ersten Morgen in Wrocław schwebte ich, gefangen in einem Güterwaggon, erneut vor der Grenzschranke von Medyka und wurde an beängstigend schwachen Seilen nur immer weiter in die Höhe gezogen. Der Zug musste von den breiten Gleisen der UdSSR umgesetzt werden, man machte sich einen Spaß, hob uns mit an, ließ uns rutschen und fallen, „lüftete“ uns.
Unter schrecklichem Knarzen und Dehnen hatte der Wagen sein Gleisbett verlassen. Hatte rüttelnd etwa zwei Meter über Grund in der milden Mailuft gehangen. Wir fielen aufeinander, atemlos, man ließ niemanden und nichts aussteigen, damit die Tiere sich die Beine brachen und die Russen einen Grund hatten, sie zu töten. Verzweifelt hielten wir das Waggonpferd an der Kandare, flüsterten auf es ein, die Kuh schlitterte glupschäugig gegen die Wand. Da zog man weiter, höher und höher kurbelte man uns hinauf, wir schaukelten vor Baumkronen, von unten schrie man „Himmelfahrt“, „wniebowzięcie“, „polnische Spezialität“, so lustig waren Späße jetzt, „Himmelfahrt!“
Die heiße, helle Luft des Übergangs benahm uns den Atem.
Für Sekunden hingen wir still unter der strahlenden Sonne über den nicht zueinander passenden Spurweiten. Drehten uns an einem viel zu dünnen Strick, die Gesichter geschwollen, die Münder wie zum Schreien geöffnet, verzerrt, ohne Laut.
Das war die polnische Westverschiebung.
Die polnische Westverschiebung waren wir.

”Halkas erster Morgen in Wrocław, Ende Mai 1945” ist der dritte Beitrag der neuen Serie Wegstücke. Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. Der erste, den wir ihnen in drei Auszügen vorstellen wollen, steht unter dem Titel Zugfahren.