Vater – Sieben Sprünge vom Rand der Welt https://der-siebte-sprung.de Ulrike Draesner Thu, 16 Oct 2014 08:46:26 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4 63645751 Wolf und Fuchs (3) https://der-siebte-sprung.de/wolf-und-fuchs-3/?pk_campaign=feed&pk_kwd=wolf-und-fuchs-3 Thu, 16 Oct 2014 08:30:24 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=1074 ]]> © Flickr.com/Tambako The Jaguar

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Auch Hannes begegnet dem Wolf:
(Kriegsgefangenschaft in Russland)

Niemand draußen wusste, ob oder wo er lebte. Er ging in der Lagerwelt auf, existierte nur dort. Es gab keinen Außenraum mehr. Seine Zigaretten tauschte er gegen Brot. Das alte Festhalten an Zahlen, die Bäckerregeln im Blut. Im Sommer arbeiteten sie auf einer Kolchose; von ihrem Gehalt zahlten sie Steuern und Gebühren an das Lager, das Wenige, was übrig blieb, wurde auf ein Konto überwiesen. Einmal durfte er 150 Rubel abheben, sie waren im Handumdrehen verbraucht und, wie er hoffte, klug verteilt. Er hätte gewusst, wie man einen Hasen fing; es gab keine Hasen. Nicht einmal Kaninchen. Die Russen hungerten ebenfalls. Manchmal schob er sich, indem er sich rasch bückte, einen Halm in den müden Mund. Manchmal erbrach er davon.
Davon oder von der Leere im Kopf. Er wachte auf und wusste, wer tot war: er selbst.
Da lachte er laut.
Andere, die es auch wussten, schauten ihn an.
Er verlor zwei Zehen, lächerlich. Der Weg zu seinem Vater war weit gewesen. Gebückt wühlte der alte Mann zwischen Scherben in einem Boden, der aus Knochen bestand. Er schien glücklich, trug einen weißen Indianerzopf, sah den Sohn lange an und erzählte die Geschichte von Odysseus und der Kälte, die in der Odyssee vergessen worden war. Odysseus, der schlaue Hund, hatte entdeckt, dass, wer fror, nur ein Feuer in sich entzünden musste. Dann schmolz sein Fett, rasend schnell schmolz er mit ihm dahin, dabei wurde ihm warm.
Ihm wurde warm.
Bisweilen hörte er nachts Wölfe heulen. Sie waren wirklich Tiere, das tröstete ihn. Er konnte den Mond anschauen wie sie. Die Wölfe heulten, obwohl sie zuhause waren.

Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. ”Auch Hannes begegnet dem Wolf” ist der zweite von sechs Beiträgen, die wir Ihnen unter dem Titel “Wolf und Fuchs” vorstellen möchten.

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Wolf und Fuchs (2) https://der-siebte-sprung.de/wolf-und-fuchs-2/?pk_campaign=feed&pk_kwd=wolf-und-fuchs-2 Mon, 13 Oct 2014 08:40:48 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=1058 ]]> © Flickr.com/Lennart Tange

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Simone erzählt eine Gute-Nacht-Geschichte nach, die Eustachius gern erzählte:
In den Wäldern um die Stadt Gubbio lebte ein großer, schrecklicher Wolf. Er riss, was er fassen konnte, fasste mehr, als man glauben wollte. Kaum ein Mensch wagte sich, seit er sich einige Male gezeigt hatte, über die Mauern der Stadt hinaus, ihr Bild verschwamm den Bewohnern vorm Gesicht, so eingeschlossen fanden sie sich, denn nie mehr konnten sie auf sich zurückschauen, nie sich von sich entfernen. Und wenn sie die zunehmend stumpfen Augen einmal öffneten, sahen sie erneut nichts als den Wolf, wie er, im Mittagslicht nur er selbst, schattenlos und groß die Gräben vor den Mauern umschlich.
Eine einzige Gutenachtgeschichte hatte Vater je erzählt. Diese. Keine Ahnung, woher sie stammte. Auch Esther war in ihren Genuss gekommen, und es schien, dem Wolf und Franziskus sei Dank, zu funktionieren: Meine Tochter ging nahe genug vor mir, um mich zu hören, und kein Einspruch, kein pubertierend hämisches Lachen unterbrach mich.
Franziskus beschloss, in den Wald aufzubrechen und den Wolf zu suchen. Die Bürger von Gubbio rieten ihm dringend ab, es habe keinen Sinn, sich gegen die Natur, selbst wenn sie irrlaufe, zu stemmen. Franziskus hörte, wie es heißt, aus Mitleid mit den Gubbionern nicht auf diese Worte, möglicherweise bewegte ihn stärker sein Mitleid für den Wolf. Als er in den Wald des Grauens zog, so Eustachius an dieser Stelle stets mit Genuss, schlichen zahlreiche Bürger der Stadt hinter ihm her; sie glaubten, dass das gierige Tier, wenn es einen Mann verspeist hätte, nämlich den vorwitzigen Franziskus, vorerst satt wäre. Ohne Gefahr also konnte man zusehen.
So verließen sie zwar nicht sich selbst, aber ihre Stadtmauern, bereits damit hätte Franziskus, auch ohne Erscheinen des Wolfes, etwas bewirkt.
Das Tier indes wusste das nicht und stellte sich brav mit weit aufgerissenem Maul vor Franziskus in den Weg. Dass dieser dabei nicht nur die gebogene Schärfe der Zähne sah, sondern auch, wie alt und löchrig das Gebiss im Kiefer hing, konnte dem Wolf nicht bewusst sein. Franziskus lud ihn ein, näher heranzutreten, und nannte ihn Bruder. Das einsame Rudelwesen legte, als der Prediger ihm versprach, dass ihm kein Leid geschehen solle, seinerseits als Friedenszeichen dem Mann, der die Tiersprache verstand, die Pfote in die Hand. Hand und Pfote passten bedingungslos ineinander, sie waren gleich groß und konnten gleichermaßen kräftig anpacken, nur, was die Milde anging, obsiegte der Wolf. Mit den Haaren zwischen den Pfotenballen erriet er jedes Gefühl, das sein Gegenüber je durchströmt hatte. Er folgte Franziskus in die Stadt, wurde wirklich den Rest seines Lebens von den Bewohnern gefüttert, und selbst die Hunde bellten, wie ihm versprochen worden war, niemals nach ihm.

Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. ”Simone erzählt eine Gute-Nacht-Geschichte nach, die Eustachius gern erzählte” ist der zweite von fünf Beiträgen, die wir Ihnen unter dem Titel “Wolf und Fuchs” vorstellen möchten.

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Spree https://der-siebte-sprung.de/spree/?pk_campaign=feed&pk_kwd=spree Tue, 23 Sep 2014 09:35:16 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=1002 ]]> OLYMPUS DIGITAL CAMERA

An die Spree reist keine der Figuren in meinem Roman – wohl aber hat meine Recherche zu den Sieben Spüngen mich auf unerwartete Weise nahe an die Stadt geführt, in der ich seit 18 Jahren lebe. Ich entdeckte, dass der Vater meiner (väterlichen) Großmutter in Erkner zur Welt kam. Landkreis Oder-Spree.
Aufgewachsen bin ich an einem kleinen Fluss, der Würm, die in die Isar mündet, die in die Donau mündet, die ins Schwarze Meer fließt. Nun lebe ich in der Nähe eines Gewässers, das sich ebenfalls in west-östlichen Mischlandschaften bewegt. Spree, die Sprühende, sagen die Etymologen. Sie nehmen eine Abstammung des Namens aus dem germanischen spreu̯- = stieben, säen, sprengen, sprühen an. Das germanische Sprēw- soll als Sprěva oder Sprěv’a ins Slawische übernommen worden und von dort als „Spree“ wieder ins Deutsche zurückgewandert sein. Ein reisend-verbindendes Wort, wohl wahr. Auch im Englischen findet es sich – spree bedeutet Gelage, Orgie, Rausch.

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Es spricht: Jennifer https://der-siebte-sprung.de/es-spricht-jennifer/?pk_campaign=feed&pk_kwd=es-spricht-jennifer Thu, 11 Sep 2014 08:23:42 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=937 ]]> Stammbaum_01
Boris, den Ausdruck abgeklärter Geduld im Gesicht, den er sich während meiner Pubertät zugelegt hatte, schaute mich nur an. Müde und – vergnügt. Dann begann er zu reden, als wäre nichts, unversehens kam die ebenfalls abgebildete Grolmanntochter ins Spiel, er betrachtete das Foto eingehend, und seine Stimme wurde wärmer und wärmer, und je wärmer sie wurde, umso elender fühlte ich mich. Da war es, das ungeheuerlich starke und schmerzhafte Band. Seelenband! Haben das alle Kinder und Eltern zwischen sich? Mit 14 hatte ich es zum ersten Mal als etwas wahrgenommen, was eine grausame Macht, die sich nicht im Geringsten um mein Einverständnis scherte, mir als Kind eingepflanzt hatte, so dass das Band dick und stark an mein Herz gewachsen war. Ich hatte bis heute mit niemandem darüber gesprochen, nicht einmal mit Nascha. Mit 14einhalb glaubte ich, sowieso bald davon befreit zu sein, außerdem war es peinlich; mit 16 zeigte ich allen eine Harke und trainierte nur mehr Volleyball, mit 17 wuchs ich zehn Zentimeter und fraß, mit 18 wurde ich volljährig und nahm ab. Ich fühlte mich frei.
Und jetzt, nur ein paar Jahre später, mir nichts, dir nichts, war das Band wieder da, schwang und vibrierte in mir zwischen Hals und Bauch, als wäre es nie gelöst gewesen, und Vater zog daran. Er konnte das viel stärker als Mutter, was vielleicht kein Wunder war, denn Mutters Part hatte Oma Halka übernommen, solange sie lebte, Mutter hatte ich von meinen Familienmenschen am wenigsten gesehen. Fast wurde mir schwindelig, ich empfand das Vaterband als zu schmerzhaft und stark und zerrte dagegen, nicht, um es zu zerreißen, das konnte kein Mensch, das wusste ich inzwischen. Es gab nur eine Möglichkeit, dem Band zu entkommen: man musste ihm entgegeneilen und sich unter ihm durchducken. Im Training machten wir derartige Umkehrübungen, ›liebe den Boden, wenn du ihm entgegenfällst‹. Wie dies in der Wirklichkeit mit einem Vater gehen sollte, war mir rätselhaft, Boris hingegen schien es zu wissen, vorbehaltlos kam er mit seinen Worten auf mich zu, erzählte offen, breitete sein Herz aus, seine Träume von einem neuen Leben.
Wir saßen nebeneinander auf seiner Bettcouch, ich still bei ihm. Eine Weile beruhigten mich der vertraute Klang seiner Stimme, sein Geruch und seine Nähe, so dass ich nicht mehr auf den Sinn der Worte achtete, doch dann hörte ich zu und das schreckliche Gefühl beschlich mich, er sitze hier mit mir, um so zu tun, als habe sich nichts geändert und ändere sich auch in Zukunft nichts. Ich begriff, dass er nicht nur nie mehr zu Antonia zurückkehren, sondern auch nie mehr mein alter Vater sein würde, denn alles, was ich noch zu retten versucht hatte, hatte sich bereits geändert: er. Er war aufgebrochen und fortgegangen und ging mit jedem Wort einen Schritt weiter, und als ich das dachte und spürte, dass ich gleich würde weinen müssen, sprang ich auf und rannte davon.

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Sei froh, dass du lebst https://der-siebte-sprung.de/sei-froh-dass-du-lebst/?pk_campaign=feed&pk_kwd=sei-froh-dass-du-lebst Sun, 02 Feb 2014 20:38:19 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=130 ]]> Sei froh dass du lebst - Ulrike Draesner-Beitrag

Sei froh, dass du lebst: Ursprünglich stand hier: „Diesen Satz verdanke ich Sabine Bode und ihren mit zahlreichen Kriegskindern geführten Interviews. Viele von ihnen berichteten, dieses „sei froh, dass du lebst“ nach der Flucht bzw. nach dem Krieg häufig gehört zu haben, insbesondere von ihren Müttern. Die jedes Klagen damit im Keim erstickten. Ein erschlagender Satz.“
Was hier stand, ist richtig. Dennoch stimmt es nicht: ich selbst noch habe diesen Satz aus dem Mund meines Flüchtling-Vaters zu hören bekommen. Wenn auch mit kleinen Abwandlungen: „Sei froh, dass es dich gibt“. „Sei froh, dass du im Frieden lebst.“ „Sei froh, wie gut es dir geht“.

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