Simone Grolmann – Sieben Sprünge vom Rand der Welt https://der-siebte-sprung.de Ulrike Draesner Thu, 13 Nov 2014 09:04:16 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4 63645751 Essen (5) https://der-siebte-sprung.de/essen-5/?pk_campaign=feed&pk_kwd=essen-5 Thu, 13 Nov 2014 09:04:16 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=1165 ]]> © Ulrike Draesner

© Ulrike Draesner

Boris erzählt, wie Boris und Simone versuchen, sich miteinander zu unterhalten
Gekreuzte Holzspeere, ein wagenradgroßer Teller mit Fladen zum Selberrollen. Ich war stolz darauf, gleich zu Anfang festgelegt zu haben, dass ich einlud. Sie sagte »nice of you«, als wäre sie noch im Institut, und bestellte einen Aperol.
Ich hatte ihr nach dem Vortrag geschrieben, eine kleine Ewigkeit an den paar Zeilen gefeilt, nicht zu nah, zu aufdringlich, zu distanziert, wie machte ich ihr deutlich, dass es mir um sie ging, nicht um ihren Vater und nicht um die Affenforschung, nein, dass sie, Simone, es war, die mich lockte, die mir gefiel. Am Ende schrieb ich das so direkt und sagte in dem Versuch, selbstironisch zu sein, als Pole dürfe ich, nein, müsse ich mit der Tür ins Haus fallen, Schwerenöter, Handkuss, mindestens.
Sie antwortete sofort. Empört! Dass ich ihr meine Nationalität verschwiegen hätte (sie hatte nicht gefragt). Dass sie mir, hätte sie es gewusst, den Auftrag nicht erteilt hätte (eben). Dass ich es ihrem Vater hätte sagen müssen (der hatte es nach drei Minuten erraten). Als ich das tippte, war klar, dass sie sich nun entweder nie mehr meldete oder dass ich eine Chance bekäme.
Der Betreff ihrer nächsten Mail lautete »Affenbesichtigung«. Sollte ich, als Affe, besichtigt werden? Ich beschloss, das Wort als Zeichen von Humor zu nehmen. Sie lud mich in ihr Institut ein, ich sagte zu.
Als ich eine Woche später (täglich Sport, weder Wein noch Bier) zum vereinbarten Termin dort erschien, hieß es, die Forscherin befinde sich in einer Konferenz. Die Empfangsdame rief eine Studentin an, die mich durch uninteressante, holzgetäfelte Büroflure führte, um mir am Ende zwei ebenso uninteressante Affenspielräume zu zeigen. Ich sagte, ich müsse mindestens 20 Minuten bleiben um herauszufinden, ob meine Tierhaarallergie ausbreche. Wir warteten eine halbe Stunde, ich hoffte, meine Gastgeberin käme noch, sie kam nicht.
Am Abend desselben Tages schickte sie eine entschuldigende SMS. Wir mailten weiter (ich: Warum lassen Sie Affen in Gefangenschaft leben? Sie: Weil ihre Habitate zunehmend von uns Menschen zerstört werden, weil in ihrer Heimat Bürgerkrieg herrscht. Ich: Aber nicht nur), verabredeten uns, stritten (Sie: Stimmt. Sie werden auch gegessen. Ich: Lenken Sie nicht ab. Sie halten sie in Gefangenschaft, weil Sie forschen wollen. Sie: Weil die Menschenartigen den Planeten beherrschen. Zufrieden jetzt? Ich: Ja. Aber müssen Sie mitmachen? Sie: Wollen Sie die Tiere einfach auswildern?),
sie: »Sie Romantiker!«
Sie, entspannt vor mir. In all ihrer Schönheit und Brillanz. Eng geschnittene, blaue Jacke, blaue dreiviertellange Stoffhosen, schwarze Stiefel.
Wir hockten mit unbequem angewinkelten Beinen auf Bastmatten. Grolmann war drei oder vier Zentimeter größer als ich. Wenigstens das fiel im Sitzen nicht auf.
»Ich bin so blöd«, sagte die Forscherin. Das Grün ihrer Iris schien aus dem Auge hinaus als zarter Strich auf Unter- und Oberlid gewandert zu sein. Kein Lidschatten, kein Kajal, sichtbar nur bei bestimmtem Lichteinfall, jetzt.
Sie biss in ein Stück Fladen und schob kauend nach: »Sie, mein Lieber, aber auch.«
Mein Lieber!
Gut, ich wusste, wie es gemeint war. Das wusste jeder Idiot. Dennoch: Sie hätte es nicht sagen müssen. Ich brachte ein vergleichsweise ruhiges »Warum?« heraus, schaute sie an, sprich: starrte ihr in die moosgrünen Augen, und sagte: »Ihres Vaters wegen natürlich. Ich schreibe Ihnen einen harmlosen Abschlussbericht, befreunde mich mit ihm, gehe ihm auf den Leim, durchschaue ihn nicht im Geringsten.«
»Das scheint Sie nicht zu stören?«
Es war Mitte März, kalt und regnerisch. Umso heißer kam mir die Luft in diesem afrikanischen Restaurant vor. Am Nachbartisch wurde gegart, Erlebniskochen, oder wie das hieß; rundum roch es nach exotischen Gewürzen und Fleisch; im Hintergrund lief Cosmopop.
»Im Gegenteil«, sagte ich und nippte an meiner Apfelschorle. Sah wenigstens farblich aus wie Wein. Bei gutem Willen. Viel gutem Willen.
»Es zieht mich an. Wie Sie!«
Ich wusste nicht, ob sie wusste, dass »wie du« oder »wie Sie« nicht nur über Arten hinweg, sondern auch zwischen Menschen als Zauberformeln wirkten. Nun ja, das musste sie wissen.
Sie holte eine kleine silberne Brille aus ihrer Handtasche, um das Menü zu lesen. Der schlaksige Kellner, vermutlich der Sohn der Familie, der sich hier sein Taschengeld aufbesserte, hatte uns nur eine Karte gebracht. Wir beugten uns darüber.
Während wir auf das Essen warteten, fragte ich nach Bonobos. Sicheres Terrain! Es handelte von Affen. Dachte ich.
Und sie? Erzählte von Männerhoden. Die seien im Vergleich zu Schimpansenhoden relativ klein, was darauf hinweise, dass stabile heterosexuelle Beziehungen die Menschengesellschaft seit Jahrtausenden dominierten. Zunächst wusste ich nicht, was ich mit dieser Information anfangen sollte. Wollte sie sich über mich lustig machen oder auf seltsame Weise Rollenmodelle diskutieren? Nach einer Weile begriff ich, dass Anthro-Biologen von Körpern ausgingen und über Körper nachdachten, und dass Simone davon sprach, weil es sie beschäftigte.
Sie sagte, die Homo-sapiens-Frauen hätten Treue gegen Schutz und männliches Engagement getauscht, bei Biologen heiße das »kooperative Brutpflege«. Als ich fragte, ob sie glaube, dass in absehbarer Zeit die Hoden menschlicher Männer größer würden, lachte sie. Als ich ihr sagte, dass ich ihren Gedanken, unsere Anatomie erzähle eine Geschichte von Liebe und Bindung, wunderbar finde, denn ich fand ihn wunderbar und bemerkenswert, lächelte sie, und der Junge in Hängejeans und T-Shirt trug die Hauptspeisenfladen auf, groß wie Wagenräder.

Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. ”Boris erzählt, wie Boris und Simone versuchen, sich miteinander zu unterhalten” ist der letzte von fünf Beiträgen, die wir Ihnen unter dem Titel “Essen” vorstellen möchten.

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Essen (1) https://der-siebte-sprung.de/essen-1/?pk_campaign=feed&pk_kwd=essen-1 Thu, 30 Oct 2014 08:54:55 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=1136 ]]> Bäckerei in Oels im Juni 2014, © Ulrike Draesner

Bäckerei in Oels im Juni 2014, © Ulrike Draesner

Simone und die Träume aus einem anderen Leben
Kelche, Schalen, Vasen, Gläser – ein flimmernder, herrischer See. Sonnenstrahlen fallen durch die hohen Fenster in die Halle, fangen sich in dem übereinandergestapelten Kristall, das die Luft in blendenden Dunst verwandelt. Draußen dämmert es, Amseln zwitschern. Ein Junge hat einen Flügel der hohen Holztür geöffnet, steht erstarrt auf der Schwelle. Die Kappen seiner Schuhe fehlen, rechts schaut ein grober grauschwarzer Strumpf heraus; die Haut über den Schäften ist nackt und bläulich vor Kälte. Auf das Verbindungsstück zwischen den Hosenträgern seiner Lederhose ist eine eingerissene Edelweißblüte genäht. Ich kenne ihn so gut, dass ich von dem hinter der Blüte verborgenen Täschchen weiß, in dem er drei Reichsmark und einen kleinen selbstgeschnitzten Stempel in Form eines Schweins versteckt.
Es ist die Turnhalle der größten Schule der Stadt. Sprossenwände, Rutschstangen und Ringe, sinnlos unter der Decke festgezurrt. Das Gebäude ist langgestreckt, und es dauert, bis er begreift, was er sieht: Bis in die hintersten Ecken hat man es mit Tischen gefüllt, kleinen, großen, hohen, niedrigeren, Tischen aus reich beschnitztem Kirschholz, mit polierten Eichenplatten, manche nackt und roh, andere mit Leintüchern bedeckt. Kristallschalen, Karaffen, Sektkelche, Vasen jeder Art, facettierte Löwenköpfe, sogar ein Paar erhobener Bärenpranken stehen darauf – der gefrorene Reichtum der Stadt, hart und schön.
Zögernd streckt der Junge den linken Arm nach einem der Glaskelche. Das Knarren der Tür in seinem Rücken erschreckt auch mich. Es war der Wind. Die hereingedrückte Luft riecht nach Schnee.
Er ist vierzehn und ein paar Monate. Er sieht älter aus. Er hat Hunger. Ein Schwan treibt über ausgewaschenes Leinen, Glashunde geben Pfötchen, eine dunkelrote Bache schnüffelt neben weißroten Frischlingen, fünf blaue mundgeblasene Engel schlafen an eine überirdische Christbaumspitze gelehnt, kunstvoll geschliffen, böhmisch, mährisch, unwiederbringlich, alt.
Bot man den erwarteten Russen an, was man besaß, als nütze das Opfer: »Nehmt, dafür lasst uns in Ruhe?« Oder hieß die Geste: »Uns erschlagt ihr sowieso, lasst wenigstens das hier heil.«
Heil.
Er hat Brot gesucht.
Seine Haare stehen stachlig nach oben.
In dicht gebündelten Strahlen schießt das Abendlicht durch die knapp unterm Dach angesetzte Fensterreihe auf das Deck des stillen Schiffes. Alles ist deutlich, voller Zeigekraft: die Lebensgischt zu dicken weißen Krusten und Eisspitzen, zu Seevögeln und Fischen erstarrt.
Vorwärts! Vorwärts!
Schmettern die hellen Fanfaren,
Vorwärts! Vorwärts!
Jugend kennt keine Gefahren.
Vater weint. Seine kamilleblonden Brauen, sein zitternder Mund. Das kindliche, noch unbeflaumte Kinn. Ich sehe ihn vor mir, träume von ihm. Vater, jung und, wie mir scheint, noch unverletzt. Vater mit all der Lebensempfindlichkeit, mit der er zur Welt gekommen war. Noch weich. Nach diesem Menschen sehne ich mich wie nie zuvor in meinem Leben nach etwas oder jemandem. Wie nach etwas Lebensgeliebtem.
Das gibt es nicht?
Doch. Ich strecke die Arme aus.

Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. ”Simone und die Träume aus einem anderen Leben” ist der erste von fünf Beiträgen, die wir Ihnen unter dem Titel “Essen” vorstellen möchten.

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Zugfahren (1) https://der-siebte-sprung.de/zugfahren/?pk_campaign=feed&pk_kwd=zugfahren Mon, 22 Sep 2014 06:25:00 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=990 ]]> Ein Straßenschild in Oels/Olesnica (ul. Bratnia, Brüderstraße)

Ein Straßenschild in Oels/Olesnica (ul. Bratnia, Brüderstraße)

Simone denkt an Eustachius

Typisch. Stets in Bewegung, der Mann, selbst wenn er saß, und er wollte viel sitzen, weil so die Bewegung gezähmt war, er liebte es, an einem festen Punkt zu verharren, während er sich bewegte, also fuhr er mit dem Auto zu seinen Kongressen, während in der Bahn alles in ihm nur noch stärker in Unruhe geriet, er im Zug auf und ab lief, obwohl sich der Zug ohnehin bewegte, die Mitreisenden bemerkten es natürlich und sahen ihm die mangelnde Sesshaftigkeit an. Wir Kinder hatten das nicht, „wenigstens haben die Kinder das nicht“; man verbot uns das Herumlaufen oder spielte mit uns, so saßen Sandra und ich im Abteil fest, mit den zu kurzen Kinderbeinen, den über dem Boden baumelnden Füßen. Eustachius ließ uns nicht umherlaufen wie die anderen Kinder umherliefen, antiautoritär war ein Luxus, den man sich nur auf dem Boden einer ausgeprägten Sesshaftigkeit leistete, während wir, Sandra und ich, immer so still saßen und so wenig auffielen, dass sich sogar unsere Großeltern Lilly und Hannes in unserer Stille verstecken konnten. Nur der Zug schlängelte sich, einer aus Eisengliedern zusammengesetzten Leine gleich, durch die grasige und narbige Landschaft, vor 40 Jahren waren die Strecken krummer als heute, und Johnny sagte: „Das Wegenetz der Bahn folgt anderen Gesetzen als das Straßennetz“, und Stach sagte: „Das Wegenetz einer Flucht zieht man ein Leben lang hinter sich her.“

Mit dem Beitrag „Simone denkt an Eustachius“ beginnt die neue Serie Wegstücke. Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. Der erste, den wir ihnen in drei Auszügen vorstellen wollen, steht unter dem Titel „Zugfahren“.

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Pongoland https://der-siebte-sprung.de/pongoland/?pk_campaign=feed&pk_kwd=pongoland Tue, 08 Apr 2014 06:22:11 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=443 ]]> Schimpansen #7terSprung

Pongoland: das Menschenaffenhabitat des Leipziger Zoos (Pongo: der lateinische Name der Gattung Orang Utan).

Die weltweit größte Menschenaffenanlage stellt sich für den Zoobesucher als Nachbildung eines Forschercamps an der Elfenbeinküste dar. Als Wolfgang-Köhler-Primaten-Forschungszentrum, das wissenschaftliche Forschung mit zeitgemäßer Tierhaltung und -präsentation verbindet, gehört sie zur Abteilung Vergleichende und Entwicklungspsychologie des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie.

Zoobesucher haben die Möglichkeit, die Menschenaffen in den Außen- und Innengehegen der Anlage zu beobachten und sich über die Durchführung der wissenschaftlichen Studien zu informieren. Mittelpunkt ist eine 12 bis 19 Meter hohe und 1.600 m² große Tropenhalle mit fünf naturnahen Anlagen. Künstliche Fels- und Uferformationen sowie ein tropischer Baum- und Vogelbestand gestalten die Lebensbedingungen der Menschenaffen nach.

Erforscht werden Verhalten und Kognition (Wahrnehmungsfähigkeit, Selbstbilder, Abstraktionsvermögen u.a.) bei den vier Menschenaffenarten Orang Utan, Gorilla, Schimpanse und Bonobo. Tierexperimente und Tierversuche im herkömmlichen Sinne finden in der Forschungseinrichtung nicht statt, Experimente beruhen auf Interaktion mit den Affen. Im Übrigen wird ihr Verhalten beobachtet. Leiter des Forschungszentrums sind der amerikanische Anthropologe Michael Tomasello und der spanische Tierpsychologe Josep Call.

Die am Vorbild des Yerkes National Primate Research Center in Atlanta orientierte Anlage wurde am 1. April 2001 eröffnet. [vgl. wikipedia-Artikel] ]]> 443 Vlek spricht (Yerkish) https://der-siebte-sprung.de/vlek-spricht-yerkish/?pk_campaign=feed&pk_kwd=vlek-spricht-yerkish https://der-siebte-sprung.de/vlek-spricht-yerkish/?pk_campaign=feed&pk_kwd=vlek-spricht-yerkish#respond Sat, 01 Feb 2014 09:09:09 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=115 ]]> (Polski: Małpy. Übersetzung: Karolina Kuszyk)

Eustachius Grolmann, Jahrgang 1930, Kriegskind, Flüchtling, fürchtet sich vor Menschen. Er weiß warum. Mit Tieren hingegen versteht er umzugehen. Er ist alt, doch eine Frage lässt ihn, den Neurologen und Verhaltensforscher, nicht los: Wie kann es sein, dass Menschen Menschen töten? Warum sind Menschenaffen anders? Sind sie es wirklich?

Als er zu studieren beginnt, glaubt man an das Gute wenigstens in diesem Geschöpf: innerhalb einer Art töten sie einander nicht.

Seine Tochter Simone sieht das anders:

„Er hat 40 Jahre an Primaten geforscht. Bei ihm meinte Primaten: Menschenaffen. Ich forsche seit über 20 Jahren an Primaten: Affen und Menschen. Stach interessierte das Gehirn. Mich interessieren Gehirn und Verhalten. Affen sind Rudelwesen. Wer mit anderen lebt, muss sich in anderen spiegeln. Er muss sie berechnen können. Listig sein. Täuschen, tricksen. Das äffische Wesen liegt nicht in Nachahmung. Darin sind sie nicht einmal besonders gut. Das äffische Wesen ist Betrug.“

Simone:

„Sehen Sie sich Julys Körper an. Sie legen Ihre Hand auf Julys und bemerken, dass Ihr Daumen länger ist. Sie fassen einen jun­gen Bonobo um den Oberarm und haben nie im Leben so harte Muskeln gespürt. Sie ziehen an seiner Unterlippe und staunen, wie viel mehr Lippe er hat als sie. Sie schauen ihm in die Augen und stoßen auf einen Blick, so forschend wie der Ihre.“

Die Forscherin schob den Computer zur Seite, die Beamerfläche wurde blau, keine Figuren, keine Schatten, nur die Höhle, die Zuhörer, wir.

„Ohne diesen Spiegel hätten wir keine Möglichkeit zu verste­hen, was es heißt, ›ein nackter Affe‹ zu sein. Menschenaffen äh­neln uns nicht nur in den kodierenden Gensequenzen. Was das angeht, sind wir auch extrem nahe mit Fliegen verwandt. Entscheidend ist die Orchestrierung der Bausteine. ›Dark matter‹ nennt man, was dafür zuständig ist, dark matter bestimmt, wie aus dem immer gleichen Material Fliegen oder Menschen zusam­mengefügt werden, oder Schimpansen.

Ein Mysterium. Wir haben keine Ahnung, was geschieht.

Nur eines wissen wir:  Ohne Bonobos oder Schimpansen wären wir sehr viel einsamer auf dieser Welt.“

Forschungen seit den 70er Jahren belegen, dass es in Affengruppen Kindstötungen gibt. Neue Filmdokumente der BBC zeigen einen darüber hinausgehenden Fall: eine Gruppe jugendlicher Schimpansen überfällt friedlich auf einem Baum sitzende Mitglieder der Nachbargruppe ohne jegliche Vorwarnung oder erkennbaren Anlass. Ein Affenbaby wird aus dem Fell seiner Mutter gerissen und von den Angreifern zerstückelt. Danach reichen sie, gemütlich auf die Äste des „eroberten“ Baumes verteilt, Teile des Körpers herum und benagen sie. Das Verhalten wirkt rituell. Ebenso der Aufbruch zuvor: unnachahmlich heimlich war die Gruppe der Halbstarken von der eigenen Horde fortgeschlichen, geduckt, in Reih und Glied. Es fehlte nur die Kriegsbemalung. (BBC Video Chimps on the hunt)

Menschenaffen sind unsere nächsten Verwandten. Eustachius fragt nach den neurologischen Strukturen ihrer Entscheidungen, nach ihren sozialen Determinanten. Der Psychologe und Affenforscher Ernst von Glasersfeld entwickelte Anfang der 70er Jahre am Yerkes International Primate Research Center in Atlanta eine Affensprache aus ursprünglich 256 Lexigrammen: die abstrakten, nicht mimetischen Zeichen werden aus ausgewählten geometrischen Grundformen unter Verwendung verschiedener Farben auf einem schwarzen Quadrat aufgebaut. Forscher schließen die Tastaturen an Computer an; die Affen, vorrangig Bonobos und Schimpansen, kommunizieren durch Tastendruck. Die Grammatik von Yerkish folgt dem Englischen: Die Primaten bilden einfache Sätze, sie können Fragen stellen Befehle geben oder befolgen, Feststellungen treffen.

„Er sagte, ich brauche mir keine Sorgen zu machen, strich mir über die Haare und fing an, wie früher, als ich klein war, von den Affen zu erzählen. Wie oft er nachts aufgestanden sei, um den Flüstergesprächen der Bonobos zu lauschen. Den kleinen und größeren Schnutenlauten. Dass sie so erstaunlich viel von unserer Sprache verstünden, selbst aber nicht sprächen in unserem Sinn, weil die Produktion der Lautstrukturen stark genetisch fixiert sei. Während die Lautverarbeitung ein offenes System bilde, in dem wir und auch Affen fast alles lernen könnten. Dass wir in Wirklichkeit keine Ahnung hätten, wie der Übergang vom Grunzen zum Sprechen zu erklären sei. Dass, falls er einmal nur mehr grunze, ich ihm helfen solle.“

 Vlek spricht. Das Affenkapitel

Lange Zeit hatte der Roman ein Affenkapitel. Gesprochen wurde es von Vlek, einem von Eustachius heimlich im Haus gehaltenen jungen Bonobo. Vlek ist, anders als seine Gefährtin Monty, entkommen; Eustachius versucht, ihn wieder einzufangen. Der fast erwachsene Bonobo hangelt sich von Gartenbaum zu Gartenbaum. Die im Text verwendeten Zeichen sind die der Sprache Yerkish nacherfundenen Lexigramme für  ‚Eustachius‘ und ‚Vlek‘.

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