Ostvertriebene – Sieben Sprünge vom Rand der Welt https://der-siebte-sprung.de Ulrike Draesner Sun, 17 Aug 2014 10:55:53 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4 63645751 Kleines Vaterland, małą ojczyznę https://der-siebte-sprung.de/kleines-vaterland-ma-ojczyzn/?pk_campaign=feed&pk_kwd=kleines-vaterland-ma-ojczyzn Tue, 01 Apr 2014 08:49:25 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=422 ]]> Matthiasplatz in Wroclaw #7terSprung Ulrike Draesner

kleines Vaterland, małą ojczyznę: Halina, 1945 aus Lemberg nach Wrocław vertreiben, viele Jahre später:

„Heim-ge-sucht, hatte Daidanek mir beigebracht.

Nun konnte ich sie sehen, Wrocławs Mildigkeit, von der Tatuś einst gesprochen hatte. Sie lag auf den Katzenköpfen nach einem Regen, umfloss die Büsche, die wieder blühten am Matthiasplatz, breitete sich über Hausdächer halb im Schatten, halb im Sonnen­schein. Die Vögel sangen auch ohne Plan, sie profitierten vom Sozialismus: Löcher in Hauswänden, zahlreiche Brutnischen, Samenflug. Noch vor der Morgendämmerung zog ihr Gesang unsichtbare Risse in die Reste der Nacht, mein Herz schlug im Dreischritt, Tomasz-Boris-ich, Adam-Heinrich-ich, Heinrich-Boris-ich. Dreischritt, um nicht zum Zweitakter zu werden, um nicht zu pochen zwischen früher und jetzt, Fremde und Heimat, gut und schlecht, um nicht zu pochen: Flüchtling, Flüchtling, Idiot.

Gleichwohl hatten Tomasz, Boris und ich ein Zuhause, »kleines Vaterland«, małą ojczyznę, ein postdeutsches Schwimmbad und eine postdeutsche Oder. Über Mutter hing eine Gloriole goldener Lembergerinnerungen: Je älter sie wurde, umso überzeugender machte sie sich neuerlich zu einer einzigen Person. Sie löschte, dass man sie durchgeschnitten und ihr Leben geteilt hatte, indem sie kurzerhand den zweiten Teil, ihre Gegenwart, vergaß. Ab und an, wenn sie mit Boris spielte, blitzte ihr unvermutet die alte Munterkeit aus den Augen. An anderen Tagen saß sie da und streichel­te stundenlang ihren Lemberger Flakon.“

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Rucksack der Flucht https://der-siebte-sprung.de/rucksack-der-flucht/?pk_campaign=feed&pk_kwd=rucksack-der-flucht Sat, 08 Mar 2014 09:00:03 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=354 ]]> Karolina Kozak und ihre Mohnmühle

(Polski: Bagaż – Übersetzung: Karolina Kuszyk)

Karolina Kozak in einem Dörfchen vor Wrocław empfing uns, weil sie sich den Deutschen verbunden fühlte, in „deren Haus“ sie lebte. Sie empfand es noch immer so. Durch Dinge sprach sie mit mir: die alte schlesische Mohnmühle, die Bügel- und Plättvorrichtung aus grobem Holz im Schuppen, zwei dunkelgrüne Eimer mit dem Aufdruck „Schlesische Gießereien Liegnitz“.

Recherchen für Romane folgen eigenen Gesetzen. Man sucht etwas, wovon man nur ahnt, was es sein könnte. In Polen fand ich die Vokabel ‚pjeroństwo‘ und ihr schlesisches Pendant ‚Pieronstwo‘ (Kram, Zeug), fand Bezeichnungen wie postniemiecki, post- oder nachdeutsch, für die Jahrzehnte, in denen alles nebeneinander existierte: die mitgebrachten ostpolnischen Dinge, das vorgefundene deutsche „Hab und Gut“, die neue sozialistische Produktion, die Bastelei.

 

Stefania Wróbels Herkunftsfamilie war deutsch. Horst Konietzny, der die Tonaufnahmen machte, und ich besuchten sie in Sobótka am Fuß des Zobtens. Als im Januar 1945 alles floh, lag Stefanias Großmutter im Sterben, die Familie kam nicht fort. Nur zu gut scheint Stefania, die später einen Polen heiratete, sich an das Kriegsende zu erinnern. Naturgemäß, sprich: einer deutsch- wie polnisch-schlesischen Tradition folgend, bietet sie uns selbstgebackenen Streuselkuchen an. Wenn sie spricht (dieses melodiöse Deutsch), wenn ich ihr ins Gesicht blicke, den Wangen-Augen-Schnitt sehe, den mäusischen Augenausdruck, der aufzublitzen versteht, fühle ich mich zurückversetzt an den Großmuttertisch.

 

Rechtfertigungen, Verluste der Erinnerung, des Selbst. Vergangenheit und Gegenwart trennen sich nicht. Eine Schreib-Möglichkeit, die langsam entsteht: polyphone Kontinuität.

Übergänge zwischen den Figuren  – durch motivische Tunnel.

Ichs, die wegrutschen, durch Sprache gleiten.

Heimat nur mehr in der Erinnerung, in Wortfolgen, verderbten Bildern.

 

Die Verluste wogen schwer, mancher zerbrach daran. Andere betonten den Aufbruch, ihren Glauben an eine neue Gesellschaft. Den Rucksack der Flucht trugen sie alle ein Leben lang.

Er blieb unsichtbar für jene, die die Entwurzelung nicht teilten. Immer wieder während der Recherchezeit fällt mir auf, wie gut es gelang, dieses „Gepäckstück“ zu verstecken. Doch das stimmt nur halb. Nach innen, vor Freunden, allesamt ebenfalls aus dem Osten vertrieben, sprachen meine Großeltern über nichts anderes. Andere, Einheimische, Ansässige, Verwurzelte, wollte man nicht belasten bzw. sich selbst nicht dem Risiko aussetzen, sich eine Abfuhr zu holen. Gewiss, es gab die Vertriebenenverbände und ihr lautes Auftreten. Was aber tat jemand, der das nicht mitmachen wollte?

Innenräume bilden sich, Kammern, nicht dunkel, nur dämmrig. In der kalten neuen westlichen Heimat ebenso wie in Wrocław. Da weiß mancher nicht aus, nicht ein, verliert sein Körpergefühl, treibt durch Luft. Die nächste Generation versteht kaum, wer sie ist. Als bewegliche Teilchen erzeugt? Kinder nach dem Krieg.

Etwa 12 Millionen Deutsche sollen ab dem Herbst 1944 von Osten Richtung Westen gezogen sein. Im alt-neuen polnischen Raum spricht man von 30 Millionen Migranten. Doch wie will man gezählt haben? Viele brachen mehrfach auf, viele kamen niemals an.

Die Finsterlichkeiten, durch die sie fuhren, noch fahren.

Weitere Interviews in der Playlist Der siebte Sprung auf soundcloud.

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Engerling https://der-siebte-sprung.de/engerling/?pk_campaign=feed&pk_kwd=engerling Fri, 14 Feb 2014 07:37:26 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=179 ]]> Maikäfer von Edmund Reitter, 1908. Wikicommons PD
Engerling: abgeleitet aus dem alt- und mittelhochdeutschen enger(l)inc (kleiner Wurm) bezeichnet das Wort Käferlarven und wird umgangssprachlich insbesondere für die Larven der Mai- und Junikäfer verwendet. Maikäfer-Engerlinge schlüpfen nach vier bis sechs Wochen aus dem Ei. Sie werden fünf bis sechs Zentimeter lang; der Körper ist weißlich, der Kopf braun. Zwei bis vier Jahre leben sie in der Erde, wo sie sich von Humus, Gräser- und Baumwurzeln ernähren. Bei warmer Witterung verpuppt sich der Engerling. Einige Wochen später schlüpft der Käfer, der noch einmal in einer Erdhöhle überwintert, aus der er im Mai des folgenden Jahres an die Oberfläche kriecht. Was wir sehen, scheinbar „frisch geboren“, hat den Großteil seines Lebens bereits hinter sich.
Die Freßschäden durch Engerlinge können beträchtlich sein und sogar zum Absterben ausgewachsener Bäume führen. So erklärt sich, was gemeint war, wenn man als Ostvertriebener in Bayern wieder einmal hörte: „Engerling und Flüchtling sind Bayerns Schädling.“
Offensichtlich hatten die nationalsozialistischen Jahre die deutsche Bevölkerung nachhaltig darin eingeübt, Menschen als Ungeziefer zu betrachten.

Bild: Edmund Reitter, 1908, aus Fauna Germanica, Die Käfer des deutschen Reichs. Wikicommons, Public Domain

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