Lilly – Sieben Sprünge vom Rand der Welt https://der-siebte-sprung.de Ulrike Draesner Mon, 10 Nov 2014 08:56:56 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4 63645751 Essen (4) https://der-siebte-sprung.de/essen-4/?pk_campaign=feed&pk_kwd=essen-4 Mon, 10 Nov 2014 08:56:56 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=1161 ]]> © Flickr.com/pixsellr

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Hannes, angekommen in Bayern, geht in den Wald
Anfang August hackte er bei einer Witwe im Dorf zwei Stunden Holz, im Gegenzug lieh sie ihm ihr Fahrrad für den Rest des Tages. So behände er konnte, fuhr er damit die Hügel um Wilfing auf und ab.
Seit fast einem Jahr lebte er hier. Er hatte sieben Kilo zugenommen. Er war neuerlich bei Kräften. Die äußere Armut hätte er ertragen. Die innere setzte ihm zu. Noch immer hingen sie von fremder Hilfe ab.
Von Julius und Feli.
Jeder Tag dieses Lebens demütigte ihn.
Auf der Rückfahrt ging er in den Biergarten am Kloster, Geld in der Tasche, »a Geld«. Er trank eine Maß.
Er hatte den Wilfinger Förster aufgesucht. Der Mann sprach kaum; das Wenige, was er sagte, verstand er, Hannes, nur halb.
Der Zungenschlag war rätselhaft. Gleichwohl nahm er wahr, dass die Leute, redeten sie mit ihm, noch eigens nuschelten, und etwas in ihm, müde und erniedrigt, sagte nur: flieh, flieh, er wusste sich keinen anderen Rat.
Es war eine Überraschung, als er im Biergarten endlich bedient wurde. Die anderen Gäste saßen brütend über ihren graustumpfen Krügen. Jeder wusste, dass er zu den Preußen gehörte. Das war die freundlichere Version. »Polacke« die andere. Untereinander redeten die Einheimischen laut und ebenfalls wenig; ihn sahen sie aus kleinen wimpernlosen Augen an.
Er verirrte sich auf einem schmalen Feldweg oder fuhr absichtlich falsch, lehnte das Rad an eine der wenigen Eichen, schloss es sorgfältig ab, ließ den Schlüssel in die Hosentasche gleiten, jene ohne Loch.
Schilfstängel trieben in dem weichen schwarzen Wasser, »Weiher« wurde es genannt, ein Gletscherloch. Kein Mensch außer ihm schien im Wald unterwegs, alles war mit Aufbau beschäftigt. Sonnenflecken schliefen auf dem mit Tannenzweigen und Zapfen überstreuten Boden, die Buchenstämme glänzten im Nachmittagslicht. Teile der Kronen schwebten als Leuchtraketen über ihm.
Der Vogelgesang war Mitte Juli verstummt. Erschöpft lagen die Felder und Wiesen Wilfings unter der Hitze, in den Stallfenstern des Dorfes kreisten dicke Schwärme von Fliegen, er meinte, sie noch hier zu hören. Nicht einmal Hunde gab es, wie er sie kannte, Pferde nur für den Pflug oder den Bierwagen. Zuhause hatten die Hügel zu den Wangen seiner Frau gepasst. Hier stand der Wald, von Gebirgsflüssen durchschossen, karg, windschief, leicht bläulich in die Luft. Im Dorf war Heimat schon wieder ein großes Wort, gefüllt mit Edelweiß, Gülle und Bier.
Der Strauch wiegte seine eiförmigen, spitz zulaufenden Blätter, die Beeren standen in einem zipfelig wirkenden Kelch. Daneben Wald-Trespe, Brennnesseln, ein roter Holunder. Die Kirschen fielen ihm in die Hand, ihre zahlreichen Samen klemmten sich zwischen die Zähne, er schluckte rasch.
Die gab es kostenlos. Er wollte es einfach halten. Ohne Lärm. So, hatte er gedacht, läge er wenigstens im Wald.
Der Wald setzte ihm seine Stoffe zu.
Die zweite Handvoll.
Dieu! que le son du Cor est triste au fond des bois!
Hatte Förster Priebke ihm damals das Gedicht gezeigt? Oder war es Lilly gewesen, in ihrer Verlobungszeit?
Lilly, die Französisch sprach.
Damit, dass er an den Förster von Wilfing denken würde, hatte er nicht gerechnet. Eine starke geschlossene Gestalt. Er beneidete den Mann. Die grüne Joppe, die Hornknöpfe, das Tragen des Gewehrs, die Sicherheit jedes Schrittes und Griffs, den Drilling an der Backe, den Sechserbock über Kimme und Korn.
Durch ihn indes pfiff der Wind. Die Tollbeeren glänzten schwarz auch in der Hand. Sterben und essen, in jedem seiner Träume ging es darum. Das Beereninnere war weich und dunkelrot, sogar süß, wenn auch Zunge und Gaumen sich zusammenzogen, nachdem er die ersten geschluckt hatte.
Au fond des bois.
Es war unwahrscheinlich, dass man ihn rechtzeitig fand.
Er saß im Gras. Suchte, spürte die Tiefe des Waldes.

Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. ”Hannes, angekommen in Bayern, geht in den Wald” ist der vierte von fünf Beiträgen, die wir Ihnen unter dem Titel “Essen” vorstellen möchten.

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Wolf und Fuchs (5) https://der-siebte-sprung.de/wolf-und-fuchs-5/?pk_campaign=feed&pk_kwd=wolf-und-fuchs-5 Thu, 23 Oct 2014 08:48:52 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=1087 ]]> © Flickr.com/Steve and Shanon Lawson

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Hannes erzählt
Eustachius kam im Dezember 1930 zur Welt. An einem noch winterlichen Morgen neun Monate zuvor war unvermittelt ein Altfuchs ohne Deckung am Bach gestanden und hatte mich angeschaut, als habe er mich gesucht. Reif glitzerte, über dem Wasser zerriss der Nebel in Schwaden. Der Balg des Fuchses leuchtete hellrot, die prächtige Lunte schwang dunkler mit schneeweißer Blume. Das Gehöre drehte sich ununterbrochen nach dem Rauschen der Bäume, den Kopf indes hielt er so still, als böte er mir Paroli. Seine Augen taxierten mich mit der Schätzkraft des erfahrenen Raubtieres, gejagt und über all die Jahre entwischt. Es war, als wolle er mir etwas sagen, und er sagte es. Es war fremd und gewitzt.
In aller Ruhe, stolz, drehte er auf der Stelle, warf mir einen letzten Blick zu und schnürte Richtung Wald.
Im April 1920 hatten wir geheiratet. Etwas Vornehmes ging von Lilly aus: das hellblonde dünne Haar, das in der Nase kitzelte wie nichts sonst auf der Welt, die fast durchsichtige Haut. Mit ihrer leicht schnarrenden Stimme zog ich sie auf. Runde Brüste, das hatte ich noch vor der Verlobung durchs Kleid gesehen. An meiner Brust hing das Eiserne Kreuz Erster Klasse, die Tapferkeit. Niemand schalt mich mehr, selbst Mutter gehorchte. Eisern wie das Essgeschirr. Ich musste die Augen schließen, als ich vorm Altar »ja« sagte, »ja«.
Woran ich nicht mehr glaubte, ging keinen etwas an.
Nicht einmal mich selbst.
Am Abend des Waldtages fast zehn Jahre später trug Lilly Fuchslichter in den Augen. Wir waren vorsichtig, wir hüteten uns, wir hatten Angst vor einem zweiten Kind, wir vergaßen es.


Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. ”Hannes erzählt” ist der fünfte von sechs Beiträgen, die wir Ihnen unter dem Titel “Wolf und Fuchs” vorstellen möchten.

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