Großvater – Sieben Sprünge vom Rand der Welt https://der-siebte-sprung.de Ulrike Draesner Thu, 11 Sep 2014 08:23:52 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4 63645751 Es spricht: Jennifer https://der-siebte-sprung.de/es-spricht-jennifer/?pk_campaign=feed&pk_kwd=es-spricht-jennifer Thu, 11 Sep 2014 08:23:42 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=937 ]]> Stammbaum_01
Boris, den Ausdruck abgeklärter Geduld im Gesicht, den er sich während meiner Pubertät zugelegt hatte, schaute mich nur an. Müde und – vergnügt. Dann begann er zu reden, als wäre nichts, unversehens kam die ebenfalls abgebildete Grolmanntochter ins Spiel, er betrachtete das Foto eingehend, und seine Stimme wurde wärmer und wärmer, und je wärmer sie wurde, umso elender fühlte ich mich. Da war es, das ungeheuerlich starke und schmerzhafte Band. Seelenband! Haben das alle Kinder und Eltern zwischen sich? Mit 14 hatte ich es zum ersten Mal als etwas wahrgenommen, was eine grausame Macht, die sich nicht im Geringsten um mein Einverständnis scherte, mir als Kind eingepflanzt hatte, so dass das Band dick und stark an mein Herz gewachsen war. Ich hatte bis heute mit niemandem darüber gesprochen, nicht einmal mit Nascha. Mit 14einhalb glaubte ich, sowieso bald davon befreit zu sein, außerdem war es peinlich; mit 16 zeigte ich allen eine Harke und trainierte nur mehr Volleyball, mit 17 wuchs ich zehn Zentimeter und fraß, mit 18 wurde ich volljährig und nahm ab. Ich fühlte mich frei.
Und jetzt, nur ein paar Jahre später, mir nichts, dir nichts, war das Band wieder da, schwang und vibrierte in mir zwischen Hals und Bauch, als wäre es nie gelöst gewesen, und Vater zog daran. Er konnte das viel stärker als Mutter, was vielleicht kein Wunder war, denn Mutters Part hatte Oma Halka übernommen, solange sie lebte, Mutter hatte ich von meinen Familienmenschen am wenigsten gesehen. Fast wurde mir schwindelig, ich empfand das Vaterband als zu schmerzhaft und stark und zerrte dagegen, nicht, um es zu zerreißen, das konnte kein Mensch, das wusste ich inzwischen. Es gab nur eine Möglichkeit, dem Band zu entkommen: man musste ihm entgegeneilen und sich unter ihm durchducken. Im Training machten wir derartige Umkehrübungen, ›liebe den Boden, wenn du ihm entgegenfällst‹. Wie dies in der Wirklichkeit mit einem Vater gehen sollte, war mir rätselhaft, Boris hingegen schien es zu wissen, vorbehaltlos kam er mit seinen Worten auf mich zu, erzählte offen, breitete sein Herz aus, seine Träume von einem neuen Leben.
Wir saßen nebeneinander auf seiner Bettcouch, ich still bei ihm. Eine Weile beruhigten mich der vertraute Klang seiner Stimme, sein Geruch und seine Nähe, so dass ich nicht mehr auf den Sinn der Worte achtete, doch dann hörte ich zu und das schreckliche Gefühl beschlich mich, er sitze hier mit mir, um so zu tun, als habe sich nichts geändert und ändere sich auch in Zukunft nichts. Ich begriff, dass er nicht nur nie mehr zu Antonia zurückkehren, sondern auch nie mehr mein alter Vater sein würde, denn alles, was ich noch zu retten versucht hatte, hatte sich bereits geändert: er. Er war aufgebrochen und fortgegangen und ging mit jedem Wort einen Schritt weiter, und als ich das dachte und spürte, dass ich gleich würde weinen müssen, sprang ich auf und rannte davon.

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Es spricht: Esther https://der-siebte-sprung.de/es-spricht-esther/?pk_campaign=feed&pk_kwd=es-spricht-esther Mon, 08 Sep 2014 07:27:07 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=904 ]]> Stammbaum_01_0004
Das Arrangement brachte uns über die nächsten Wochen. Ende November fiel Stach die Stufen an seiner Haustür hinauf. Hinauf, nicht hinunter.
Stufen. Exakt zwei.
Hundertausendmal war er über sie gestiegen. Er hatte in den Briefkasten sehen wollen, brach sich den linken Unterschenkel, verstauchte sich die linke Hand und befand sich im Krankenhaus, als ich davon erfuhr. Mercedes hatte ihn gefunden. Er war nicht im Regen gelegen und hatte sich nicht erkältet, obwohl er stark unterkühlt war, als man ihn abtransportierte.
Erstaunlich rosig lag er, frisch operiert, im Krankenbett. Ein offener Bruch. Die Ärzte befürchteten Infektionen.
Großvater hing am Tropf.
Man hatte ihm ein Einzelzimmer gegeben. Er hatte gleich bei der Aufnahme erzählt, dass er fürchterlich schnarche. Und einen Mittagsschlaf hindurch geschnarcht.
Das war mir neu.
Er grinste.
Er war wie ein Kind. Sichtlich stolz auf seine Schläue. Stolz darauf, wie er die Pantoffeln unterm Bett versteckte, damit die Krankenschwester die Pfanne anschleppte, und er nicht aufstehen musste.
Mutter reiste unverzüglich an, ich war froh darüber. Sie brachte ihm fünf verschiedene Rezepte für schlesischen Streuselkuchen mit, aus dem Netz.
»Sind die auch echt?«, fragte er.
Jeden Tag buk sie ihm einen der Kuchen in seiner echten Küche zuhause. Nachmittags holte sie mich im Zoo ab; bei Opa aßen wir zusammen Probe.
Stach kontrollierte, ob die Stücke exakt rechteckig geschnitten waren. Treuherzig sah er uns an: Er schmecke den Unterschied. Hundertprozentig!
»Dabei ziehst du ein perfektes Montygesicht, hundertprozentig«, sagte Mama, und es entspann sich ein für uns ungewöhnliches Gespräch, natürlich und friedlich floss es dahin. Opa thronte in seinem Bett; er hatte sich nach Simas Ankunft unverzüglichzum Krankenhausfriseur fahren lassen, sich mit Hilfe eines Handspiegels selbst rasiert und trainierte, sagte er, jeden Tag. Er hatte eine halbe Stunde Physiotherapie. Darüber, dass er sich kein Äffchen halten könne, wolle er nicht klagen, in den Kongo umsiedeln werde er deswegen auf keinen Fall: »billige Pflege, verdammtes Wetter«. Und das Kind, Esther, hier, sagte er, das gehe nicht, er passe auf mich auf! Er, sagte er und rieb sich die Nase, komme perfekt allein zurecht: Weiterhin! Perfekt!
Auch wenn er sich zuweilen benehme wie eine Prinzessin auf der Erbse.
Doch, doch, rief er zufrieden in unsere erstaunten Gesichter, er liege auf Streuselkrümeln und beschwere sich nicht, er liege auf dem zerkrümelten Schlesien, dem schlesischen Himmelreich und lache darüber, das könnten wir ruhig genießen, mit ihm.
»Kriegt er Pillen?«, fragte Sima, als wir uns vor dem Haus trennten.
Ich war mir sicher, dass er nichts nahm. Da lag er und wurde versorgt, es bekam ihm vorzüglich, und sein Schalk, der sich früher nur den Affen und mir gegenüber hervorgewagt hatte, kroch nun auch in Gegenwart anderer Menschen aus ihm heraus. Das Glück hatte Opa eingeholt, wenn ich auch zweifelte, ob er es bemerkte, er sagte nur, wie er seit Jahren sagte: »Als alter Mann werde ich glücklich sein«, und grinste: »Een aaler Moan bin iech noch lange nich.«

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Ehre https://der-siebte-sprung.de/ehre/?pk_campaign=feed&pk_kwd=ehre Tue, 15 Apr 2014 12:48:05 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=460 ]]> Ehre #7terSprung Ulrike Draesner

Ehre: oft aus dem Mund meines Großvaters gehört. Offensichtlich wichtig. Für Männer und Frauen auf sehr unterschiedliche Weise definiert. Diffus, starken Veränderungen unterworfen. Hilfreich zum Thema fand ich Peter Sloterdijks 2006 erschienenen politisch-psychologischen Essay Zorn und Zeit, in dem Sloterdijk versucht, (männliches) Leben nicht im Zeichen des sexuellen Paradigmas, unter dem es heute steht, sondern im Definitionskontext göttlich in den Kämpfer eingegossenen Zorns und der ihn regelnden Moral- und Verhaltensvorstellungen, Werte und Tabus („Ehre“) vorstellbar zu machen.

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Kuckucksuhr https://der-siebte-sprung.de/kuckucksuhr/?pk_campaign=feed&pk_kwd=kuckucksuhr Thu, 03 Apr 2014 07:43:09 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=431 ]]> Kuckucksuhr #7terSprung Ulrike Draesner

die Kuckucksuhr: Was haben Autoren und ihre Figuren miteinander zu tun? Beantworten kann das keiner, aber Geschichte lassen sich dazu erzählen. So auch diese: als Kind schlich ich manches Mal nachts in die Diele zwischen dem Schlafzimmer meiner Eltern, meiner Schwester und dem meinen, und hielt die Kuckucksuhr an. Hatten die anderen keine Ohren? Wie konnten sie dieses Rufen ertragen, diesen Vogel, der so gnadenlos die Stunden wegschrie? Im Wald mochte ich ihn, auch wenn mein schlesischer Großvater meinte, an der Zahl der Rufe die Jahre ablesen zu können oder zu müssen, die ihm zum Leben noch blieben.

Die Uhr war nicht ererbt – wer hätte ein so sperriges Werk in einen Fluchtkoffer gepackt. Dennoch war deutlich: Hannes, die Großvaterfigur des Romans, kam mit einer Kuckucksuhr auf mich zu. Historisch-biographisch richtig ist das nicht.

Die Figur liebt die Kuckucksuhr. Sie ist ein Stück zuhause.

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