Eustachius – Sieben Sprünge vom Rand der Welt https://der-siebte-sprung.de Ulrike Draesner Mon, 03 Nov 2014 09:15:24 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4 63645751 Essen (2) https://der-siebte-sprung.de/essen-2/?pk_campaign=feed&pk_kwd=essen-2 Mon, 03 Nov 2014 09:13:20 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=1140 ]]> © Flickr.com/Geert Orye

© Flickr.com/Geert Orye

Eustachius erinnert sich
Zuweilen kam mein gesamtes Leben mir so vor: einen engen, nur einen Mensch breiten Weg war ich gegangen. Die heimliche Melodie meines Blutes, der Puls jedes Muskels, jedes Nervs: »Nimm dich in acht!«
Vor Emil, der mir an der Tür auflauerte und mich nicht mehr losließ, vor Lehrern und Vater, die schlugen, vor Soldaten, die marschierten, vor Feinden, die unsere Wohnung wegnahmen, die Mutti bedrohten, auf Vati zielten, vor Volksgenossen, die mich diesem Feind in die Schusslinie stellen wollten, vor Jungen, die mir den Brotkanten stahlen, den ich zuvor selbst gestohlen hatte, vor Mädchen wie jenem, das mit zerrissenem Kleid und dreckigen Beinen im Lager Moschendorf saß. Im Gras. Zärtlich hielt es ein noch federloses Vogelbaby in der Hand. Das blanke schwarze Auge des Kükens schimmerte übergroß, sein fast durchsichtiger Körper pulste. Das Mädchen, es war kaum jünger als ich, drehte bedächtig die Hand, hob sich das Vögelchen bewundernd ans Gesicht und roch an seinem nackten Hals. Mit einer geübten Bewegung riss es dem Tier einen Flügel aus und drückte den Mund in die wunde Stelle.
Saugte daran.
Das Mädchen war geschickt, kein Tropfen fiel in seinen Schoß.
Es biss zu, aß alles auf.
Den Schnabel spie es am Ende mit einer kleinen, fast eleganten Bewegung des Mundes aus.
All die Zeit über blickte es mich unverwandt an. Und ich schaute ebenso unverwandt zurück.

Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. ”Eustachius erinnert sich” ist der zweite von fünf Beiträgen, die wir Ihnen unter dem Titel “Essen” vorstellen möchten.

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Essen (1) https://der-siebte-sprung.de/essen-1/?pk_campaign=feed&pk_kwd=essen-1 Thu, 30 Oct 2014 08:54:55 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=1136 ]]> Bäckerei in Oels im Juni 2014, © Ulrike Draesner

Bäckerei in Oels im Juni 2014, © Ulrike Draesner

Simone und die Träume aus einem anderen Leben
Kelche, Schalen, Vasen, Gläser – ein flimmernder, herrischer See. Sonnenstrahlen fallen durch die hohen Fenster in die Halle, fangen sich in dem übereinandergestapelten Kristall, das die Luft in blendenden Dunst verwandelt. Draußen dämmert es, Amseln zwitschern. Ein Junge hat einen Flügel der hohen Holztür geöffnet, steht erstarrt auf der Schwelle. Die Kappen seiner Schuhe fehlen, rechts schaut ein grober grauschwarzer Strumpf heraus; die Haut über den Schäften ist nackt und bläulich vor Kälte. Auf das Verbindungsstück zwischen den Hosenträgern seiner Lederhose ist eine eingerissene Edelweißblüte genäht. Ich kenne ihn so gut, dass ich von dem hinter der Blüte verborgenen Täschchen weiß, in dem er drei Reichsmark und einen kleinen selbstgeschnitzten Stempel in Form eines Schweins versteckt.
Es ist die Turnhalle der größten Schule der Stadt. Sprossenwände, Rutschstangen und Ringe, sinnlos unter der Decke festgezurrt. Das Gebäude ist langgestreckt, und es dauert, bis er begreift, was er sieht: Bis in die hintersten Ecken hat man es mit Tischen gefüllt, kleinen, großen, hohen, niedrigeren, Tischen aus reich beschnitztem Kirschholz, mit polierten Eichenplatten, manche nackt und roh, andere mit Leintüchern bedeckt. Kristallschalen, Karaffen, Sektkelche, Vasen jeder Art, facettierte Löwenköpfe, sogar ein Paar erhobener Bärenpranken stehen darauf – der gefrorene Reichtum der Stadt, hart und schön.
Zögernd streckt der Junge den linken Arm nach einem der Glaskelche. Das Knarren der Tür in seinem Rücken erschreckt auch mich. Es war der Wind. Die hereingedrückte Luft riecht nach Schnee.
Er ist vierzehn und ein paar Monate. Er sieht älter aus. Er hat Hunger. Ein Schwan treibt über ausgewaschenes Leinen, Glashunde geben Pfötchen, eine dunkelrote Bache schnüffelt neben weißroten Frischlingen, fünf blaue mundgeblasene Engel schlafen an eine überirdische Christbaumspitze gelehnt, kunstvoll geschliffen, böhmisch, mährisch, unwiederbringlich, alt.
Bot man den erwarteten Russen an, was man besaß, als nütze das Opfer: »Nehmt, dafür lasst uns in Ruhe?« Oder hieß die Geste: »Uns erschlagt ihr sowieso, lasst wenigstens das hier heil.«
Heil.
Er hat Brot gesucht.
Seine Haare stehen stachlig nach oben.
In dicht gebündelten Strahlen schießt das Abendlicht durch die knapp unterm Dach angesetzte Fensterreihe auf das Deck des stillen Schiffes. Alles ist deutlich, voller Zeigekraft: die Lebensgischt zu dicken weißen Krusten und Eisspitzen, zu Seevögeln und Fischen erstarrt.
Vorwärts! Vorwärts!
Schmettern die hellen Fanfaren,
Vorwärts! Vorwärts!
Jugend kennt keine Gefahren.
Vater weint. Seine kamilleblonden Brauen, sein zitternder Mund. Das kindliche, noch unbeflaumte Kinn. Ich sehe ihn vor mir, träume von ihm. Vater, jung und, wie mir scheint, noch unverletzt. Vater mit all der Lebensempfindlichkeit, mit der er zur Welt gekommen war. Noch weich. Nach diesem Menschen sehne ich mich wie nie zuvor in meinem Leben nach etwas oder jemandem. Wie nach etwas Lebensgeliebtem.
Das gibt es nicht?
Doch. Ich strecke die Arme aus.

Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. ”Simone und die Träume aus einem anderen Leben” ist der erste von fünf Beiträgen, die wir Ihnen unter dem Titel “Essen” vorstellen möchten.

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Wolf und Fuchs (6) https://der-siebte-sprung.de/wolf-und-fuchs-6/?pk_campaign=feed&pk_kwd=wolf-und-fuchs-6 Mon, 27 Oct 2014 14:25:51 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=1129 ]]> © Ulrike Draesner

© Ulrike Draesner

Hannes, nach 25 Jahren in München
Wenn man wartet und wartet, sagte ich zu Eustachius, sitzt man irgendwann einfach nur da und nimmt wahr. Das Traumglucksen der Hühner, sagte ich, um ihm nicht vom Krieg zu erzählen, während ich an den Krieg dachte, das Fiepen der Küken, die nicht schlafen, das vereinzelte Gurren von Tauben. Hin und wieder spielt der Wind in ein paar Ästen. Ich erzählte von einer Nacht in Großmutters Stall auf dem Hof bei Netsche. Ich erzählte eine Geschichte vom Kommen, Liegen und Gehen.
Draußen quietscht ein Tor, sagte ich zu Eustachius. Man wartet auf den Fuchs, der bereits drei Hühner gerissen hat. Darf die Augen nicht offen halten, sagte ich, sonst sieht man jede Mücke, die man längst hört, und jeden Nachtfalter, den man ebenfalls hört. Man sieht den Schatten der Hühner über die Wand gleiten, wenn sie hudern, was man ebenfalls hört. Das Einzige, was man nicht hört, ist der Fuchs, wie er umherschleicht, sagte ich, um nicht an den Krieg zu denken, während ich von ihm sprach.
Du musst die Augen im rechten Moment öffnen, sagte ich, und er, beim ersten Erzählen noch ein Kind, fragte: »in seinem oder deinem?«, worauf ich keine Antwort wusste, erst später, im Krieg in Polen, begriff ich, dass der rechte Augenblick jener war, in dem dieser Unterschied verschwand.
Schau, sagte ich zu Eustachius, wie vorsichtig er die unsichtbaren Fallen umgeht und auf einem Brett balancierend beginnt, am eigens für ihn aufgestellten Gänseschmalz zu schmatzen. Das ist so laut, dass er selbst nichts mehr hört. In diesem Augenblick kannst du dich bewegen, das Gewehr entsichern und dich in Position bringen.
Ich lernte von diesem Fuchs, sagte ich zu Eustachius, dass man im Kampf keine zweite Chance hat. Ich saß bei Oma im Stall, sagte ich, am falschen Ort, er roch mich und strich die gesamte Nacht nur vorbei und vorbei. In der dritten Nacht kam er in die Wärme zu den Hühnern und mir, und als ich abdrückte, war das Gewehr nicht mehr scharf. Ich hatte es geladen, den Schuss kontrolliert und nicht nachgeladen. Er verschwand, ich wartete. Mittlerweile hatte ich die Verbindung zu ihm verloren, und als er zurückkehrte und ich schoss, erwischte ich ihn, ohne ihn zu töten.
Noch am Ende meiner letzten Jagd, als ich längst nicht mehr reiten konnte, humpeln nur am Stock, jeder Jagd abgeschworen hatte, glaubte ich, die Lunte dieses Fuchses zu sehen, rot der Pelz, die Blume weiß, wandelnd, erhoben, eine Blüte auf blutfarbenem Stängel – und wir beide, der Fuchs und ich, der Leisetreter und der Eisenmann, lebendig und jung.

Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. ”Hannes, nach 25 Jahren in München” ist der letzte von sechs Beiträgen, die wir Ihnen unter dem Titel “Wolf und Fuchs” vorstellen möchten.

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Hannes erinnert sich (1) https://der-siebte-sprung.de/hannes-erinnert-sich-1/?pk_campaign=feed&pk_kwd=hannes-erinnert-sich-1 Thu, 02 Oct 2014 07:55:15 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=1037 ]]>

Adler trumpf Junior Blau“ von de:User:Stahlkocher – photo taken by de:User:Stahlkocher. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons.

Für ihn, den Kranken, gab es einen neuen Arzt in Breslau, Dr. Winsch. Er sagte, Emils linke Gehirnhälfte sei defizitär, der Klumpfuß müsse als Symptom einer größeren Schwäche des Erbgutes gelten. Diese Schwäche greife in Emil um sich. Die Behinderung werde zunehmen, Jahr um Jahr, was sage er, Monat um Monat: bis das Kind nicht einmal mehr humpeln können werde, nicht mehr artikulieren, nur sabbern, einkoten, schreien. Dr. Winsch hatte leise gesprochen, mit sachlichem Blick auf Emil. Unvermittelt wurde seine Stimme forscher, nein, froher: Man müsse untersuchen, wie das geschehe! Was als lebenswert gelte, was nicht. Ob wir ein weiteres Kind wollten? Dringend rate er ab, ja, meiner Frau empfehle er eine Sterilisation.
Ich sagte, wir hätten einen zweiten Sohn, blauäugig, blond, gesund, da sagte er: »Sehen Sie!«, als hätte er Recht gehabt.
Eine Zeit lebten wir sorglos. Emil, der sich immer warm anfühlte, Emil, unser kleiner Ofen, saß auf dem Teppich, die Katze auf dem Schoß. Auch sie mochte, was er ausstrahlte. Weniger als je zuvor wussten wir, wie ihm helfen, wir unternahmen nichts mehr, hielten ihn im Haus, hatten, wie sich später offenbarte, mehr Glück als Verstand. Mein Ältester spielte vor meinem Schreibtisch, ich saß und beantwortete Briefe. Blickte ich auf, ließ er Zinnsoldaten in einen Eimer fallen, betrachtete ein Tierbuch und versuchte, danach zu zeichnen. Emil. Sein Name erinnerte an »lieb«. Da saß der Liebe auf dem Teppich, hielt den Klumpfuß schief von sich gestreckt und lächelte still und geheimnisvoll wie ein Junges im Wald.
Ich spürte, dass ich ebenso zurücklächelte. Dabei konnten Erwachsene das gar nicht. Nur Emil hatte die Kraft, diesen Ausdruck in meinem Gesicht hervorzulocken. Bei einer Hirschkuh hatte ich einmal beobachtet, wie selbstvergessen ein Tier sein Junges anzusehen vermag. Ich fühlte mich berührt und in den Augenblick gelöst. Auch Max-der-Dritte schien um Emils besondere Fähigkeiten zu wissen, er folgte ihm überallhin, gegen Dackelart. Mit seinen krummen Beinen passte er zu unserem Kind, nebeneinander hertrippelnd legten beide auf gleiche Weise den Kopf schräg, als lachten sie beim Blick aufeinander über einen nur ihnen bekannten metaphysischen Witz.
Kinder wie ihn, sagte meine Mutter Klara, hatte es immer gegeben. Und schlimmere. Emil sei anhänglich, bemüht, still, wir sollten zufrieden sein. Und wirklich, er zeigte keinerlei Launen. Schrieb er einen Brief, klemmte er vor Konzentration die Zungenspitze zwischen die Zähne, runzelte die zarte Stirn mit Lillys fast durchsichtiger Haut. Schreiben liebte er, wenn es ihm auch schwerfiel; er notierte einzelne Sätze über Tiere und später über die SS. Die für mich bestimmten Briefe musste ich ihm vorlesen, das Blatt dann zurückgeben. Es berührte mich, wie das Kind kämpfte und dabei an mir hing.
Emil weckte eine weiche Seite meiner Männlichkeit, einen nachgiebigen Stolz. Männer wissen nicht, was Liebe ist, bis sie eine Tochter haben, behauptete Julius. Andere nickten, ich schwieg. Männer liebten nicht, bis sie ein besonders zu beschützendes Kind bekamen. Sein Geschlecht war unerheblich.

Für Eustachius galten andere Pläne. Er war der Stammhalter, lang und zäh schon als Neugeborener. Wir fragten uns, woher er das hatte. Perfekte Gelenke, die Glieder äußerst gerade. Und wie er die tiefblauen Augen aufschlug.
Hübsch. Und von weit her.
Vielleicht, weil Emil mich besetzt hielt, vielleicht, weil ich so stark wollte, dass aus Eustachius, dem Gesunden, etwas werde, weil ich mich bei ihm für ein gelingendes äußeres Leben verantwortlich fühlte, wurde ich streng.
Auch dabei dachten wir noch an Emil. Eustachius sollte ihn versorgen können, wenn Lilly und ich einmal nicht mehr waren.
Das bürdeten wir unserem Jüngsten auf.
Wir versuchten, ihn darauf vorzubereiten: Dein Bruder, er ist dein Bruder.
1935 oder 1936 kehrte die Angst zurück. Dr. Winsch, inzwischen Oberarzt am Krankenhaus Breslau-Nord, wollten wir nie mehr sehen – wir wurden einbestellt. Mutter kannte die Sprechstundenhilfe, griff zum Telefon. Das Wort »lebenswert« hörten wir nun regelmäßig, ein offizielles, hochwichtiges Wort. Emil trug Maßschuhe aus Prag, außen klobige Stiefel, innen perfekt angepasst. Er konnte sich selbst die Schleife über der langen Zunge binden, manchmal lachte er dazu, manchmal sah er traurig auf die Beine seines Bruders, rief ein »Stächel« oder »Stach«, flüsterte »kimm her ze mer«, und der Kleine rannte johlend vor ihm davon, berauscht von dem eigenen, leichten Sieg. Die Sohlen des Schuhs für den kranken Fuß waren anfangs 1,3 Zentimeter höher als links, dann 2,1 Zentimeter, schließlich 3,8. Julius und Feli bekamen ein drittes gesundes Kind.
Um Emil fürchteten wir. Die Angst um ihn und das Glück mit ihm steckten erneut wie Zapfen in uns.

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Zugfahren (2) https://der-siebte-sprung.de/zugfahren-2/?pk_campaign=feed&pk_kwd=zugfahren-2 Thu, 25 Sep 2014 07:41:45 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=1006 ]]> Der Bahnhof von Wrocław

Der Bahnhof von Wrocław

Lilly erinnert sich

Drechslers hatten uns ein Stück mit ihrem Holzvergaser mitgenommen, drei Kilo Holz ersetzten einen Liter Benzin, statt zu fallen, schienen
die Flocken auf der Stelle zu schweben, so gleichförmig, dass der Wagen ins Endlose rollte
dann torkelten sie zur Erde, Motorschaden, die letzten fünf sechs Kilometer waren wir gelaufen, die dicken, verschneiten Bäume, der
Puusch, minus 20 Grad, wer konnte das
erschleppen
hohe Tannen und Buchen, Untergehölz, Emil humpelte schrecklich trotz des Maßstiefels aus Prag, Sonderanfertigung aus der Zeit vor dem Krieg, auf der anderen Seite glich ein ebenso maßgefertigter weibisch hoher Schuh den Unterschied der Beinlängen aus
der Aufbruch war Emil, dem armen
Krawitschl, in die Schenkel gefahren, er konnte sie kaum mehr koordinieren, schalteten wir
die Taschenlampe an, wurde nichts besser, ringsum strahlten die Waldesstämme auf, unheimlich
nah und geduldig
ragten die Bäume nach oben, halbschlafend
unter ihrem Schnee. In mir ging das Haus, langsam verglühte in seinen Zimmern die Wärme, langsam verglühten dort wir, ich dachte, wie am kommenden Morgen Eisblumen über das Küchenfenster zögen
wie immer, sie würden über die Scheiben wachsen, das also bliebe, unser Haus ein Garten
aus Eis.
Weit nach Mitternacht hatten wir den Breslauer Hauptbahnhof erreicht, Türmchen und Zinnen, die einst märchenhaft zuckrige, nun tröstliche Burg. Ich kannte jede Ecke, hätte mich im Dunkeln zurechtgefunden; es war dunkel, statt des Bahnhofs fand ich ein schorfiges Gelände aus Gepäck und Mensch. Dicht an dicht zusammengeschoben, ineinander verkeilt: Koffer, Rucksäcke, Hand- und Kinderwagen, Radbehren, Säcke, Bündel und Decken. Daran gelehnt oder daran geschnallt Frauen, Kinder, Greise, Lahme und Kranke, beängstigend
still. SS
und Polizei patrouillierten. Die hohen Stadthäuser, Fassaden voller Erker und Gesimsen, lagen ebenfalls dunkel, keine Laterne brannte, die Stadt versuchte, sich zu verstecken, nicht dazu sein, heimlich von ihrem Erdboden zu kriechen, viele Wohnungen standen wohl bereits leer, in the dead
of the night, hörte ich später, ein Leben später, just tell us
how did you leave?
how did it break your heart?
die Amis waren simple and straightforward, „tell us“, die Amis wussten Bescheid und waren ahnungslos, Mai einsneunvierfünf.
Lilly, das Kind, hatte den strahlend weißen Zuckerbahnhof geliebt, eine mittelalterliche Wunderburg, Fialen, Flaggen, Fenster, der Eingang von zwei orientalisch anmutenden Uhrtürmen bewacht. Glitzernd und immens öffnete sich hinter den schwingenden Türen die Prunkhalle, goldenes Laub berankte ihre Wände, die Luft, die man atmete, schmeckte nach
Dampf, Schmieröl und Welt
nach Blumen aus den Kiosken und Zuckerwatte. Schlanke, aus den Mauern lehnende Frauengestalten trugen Kerzenlampen, Lüster schwangen von den Decken, durch das teure Opakglas im Dach der zweischiffigen Wandelhalle schienen Sonne, Mond und
unwandelbare Sterne
auf den Express Breslau-Berlin, Breslau-Lemberg, Breslau-Moskau, Zeitungsverkäufer schrien Schlagzeilen aus aller Welt, hinter ihnen ragten die Gleise aus dem Bahnhof, den allein schon man in seiner Höhe und Weite nicht begreifen konnte, in die versprochene, unausdenkliche Ferne.
Das alles war weg.
In der kalten Halle stand zu Tausenden das neue Wesen Gepäck+Mensch. Die elektrische Notbeleuchtung an den Wänden brannte, wiederholt kreisten Taschenlampenstrahlen über uns, ein Gesicht leuchtete unter einer Mütze auf, fragend, ängstlich, stumpf, ein Mädchen
mit roter Mütze, ein Junge, kaum jünger als Eustachius, der schrie, eine hudernde Mutter, jedes
Bild ging so rasch unter, wie es erschien, wir waren nun
zur Gänze
Teile des Endes, wie Rinder, die Köpfe gesenkt
verharrten wir in unseren Atemnebeln, willfährig
noch immer führbar
grauschwarz. Der Kriegsbahnhof war untergegangen, verschwunden der Bahnhof der Messerminuten: Hannes fuhr an die Front, der Herzensminuten: Hannes kam zurück, die SS
hatte das gesamte Abfahrts- und Ankunftsareal linkerhand sowie das linke Seitenschiff gesperrt, vor uns lag
der AUFBRUCH
das riesige, steinerne, zugige AUFBRUCHSTHEATER
seine Bühne der Bahnsteig
leer, abgesperrt, die Herde Gepäck+Mensch reglos davor, als Requisite ein Zug, lang, dunkel, ersehnt
ungewiss.
Wir schafften es nicht in den ersten, zu plotschig, zu unerfahren, man durfte nicht denken: „Den einen Zug treffen Bomben, den anderen nicht“, so oder so säße man gefangen im Waggon, schon im Bahnhof lagen wir wie Fische in der Dose, es war unsinnig, Angst oder Gedanken zu haben, Spatzen hockten auf den Eisenträgern unter dem Glasdach und putzten ihr Gefieder, wie dumm sie waren, nun sah ich es, noch immer steckten sie den Kopf unter die Federn und glaubten, dann geschehe nichts. Wir hatten stillgehalten, noch die Federn geplustert, um größer zu wirken, Volk, Führer, Vaterland, alles ging gut, besser als erwartet, und als es anfing, schlechter zu gehen, schlossen wir die Türen, versteckten die Köpfe, schalteten es aus, das Gehirn, fuhren ihn runter, den Herzschlag, fürchteten uns möglichst so, dass wir es nicht merkten, Emil
klammerte sich an mich, flüsternd
besprach Lilly sich mit Eustachius, ich sehe uns da am Boden sitzen, das dämmrige Licht selbst Tags, die Versuche, sich zu wärmen, Mittags gab es Kaffee, eine echte Plärre, immerhin heiß, doch wärmte die Hände, ich schlürfte, kauerte mich zusammen, die SS
marschierte auf und ab, unsere
eigenen Männer und Söhne bewachten uns, sie waren bereit, uns zu schlagen, schlugen längst, wenn einer nicht gehorchte, seltsam, dachte ich, dieser
Krieg wächst
und wächst, alle Schatten
an den Wänden zuckten auf, ich wickelte mir das eine Ende meines Schals ums Handgelenk, knotete das andere um Emils Hals, zog ihn eng an mich heran, sehr eng, er schrie und gurgelte, Eustachius‘ Idee, wir hatten Emil nicht eingeweiht, man zuckte zurück vor dem jungen, offensichtlich fassungslosen Mann, es schuf uns nicht viel Platz, doch half, und Eustachius, hochgewachsen, brutal, Eustachius, die Klinge, drängte für uns voran. Koffer Säcke Taschen Deckenbündel Menschen wurden
gehievt, SS
schrie prügelte pfiff
schob den Riegel vor, der Waggon dämmrig, stickig, alle Sitze herausgerissen, die Fenster vernagelt, es fehlte das Glas, durch die Sicht- und Atemschlitze pfiff der Wind, endlich, wir fuhren, standen prompt wieder, Tür auf, Gepäck+Mensch kam nach, man quetschte, prügelte, verriegelte, wir hörten den Pfiff der Lok, spürten die Bewegungen Eisen
auf Eisen, fuhren, es war dunkel, draußen und zwischen uns, zwischen uns kroch die Dunkelheit umher, suchte die Finger, die Koffer, die Knochen, die Gedanken, das Ich, schloss sich darum.
Einer Horde Affen gleich, stumm und geduckt, saßen wir im Käfig und lasen uns, kaum fiel etwas Licht durch Ritzen und Luken, die Läuse ab, sie übertrugen Flecktyphus, tödlich, wir fürchteten uns, lebten noch. Die Sonne stand weit über dem Horizont, über unseren Horizont ging sie längst, der Zug ruckelte, bremste, hielt
Türen auf, Luft und Licht strömten wie Schläge auf uns ein, Patrouille SS: „Was tut
der große Junge da?“ Sie
wollten Eustachius mitnehmen, obwohl er zu jung war, sogar Emil kontrollierten sie, er musste seinen Schuh ausziehen, mit vor Hoffnung glänzenden Augen sah er die Schwarzuniformierten an, als
sie fort waren, zitterte hinter ihnen die Luft, ich fand kein bekanntes Gesicht mehr unter
den Schals, wir waren alle
verändert, kannten uns nicht mehr, glichen einander nur stärker als zuvor
hatten ein Stück unserer Geschichte aus den Gesichtern verloren als machten die Gesichter
sich leer, schlauer als wir, leer für die Geschichte
die nun begann, die große Flächen brauchte, viel vom Menschen, von uns verbrauchte – für sich.
Emil neben mir, das Jingla, kroch in sich zurück. Die SS
hatte ihn verschmäht, er schwieg tagelang.


”Lilly erinnert sich” ist der zweite Beitrag der neuen Serie Wegstücke. Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. Der erste, den wir ihnen in drei Auszügen vorstellen wollen, steht unter dem Titel “Zugfahren”.

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