Eustachius Grolmann – Sieben Sprünge vom Rand der Welt https://der-siebte-sprung.de Ulrike Draesner Thu, 25 Sep 2014 09:00:54 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4 63645751 Zugfahren (1) https://der-siebte-sprung.de/zugfahren/?pk_campaign=feed&pk_kwd=zugfahren Mon, 22 Sep 2014 06:25:00 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=990 ]]> Ein Straßenschild in Oels/Olesnica (ul. Bratnia, Brüderstraße)

Ein Straßenschild in Oels/Olesnica (ul. Bratnia, Brüderstraße)

Simone denkt an Eustachius

Typisch. Stets in Bewegung, der Mann, selbst wenn er saß, und er wollte viel sitzen, weil so die Bewegung gezähmt war, er liebte es, an einem festen Punkt zu verharren, während er sich bewegte, also fuhr er mit dem Auto zu seinen Kongressen, während in der Bahn alles in ihm nur noch stärker in Unruhe geriet, er im Zug auf und ab lief, obwohl sich der Zug ohnehin bewegte, die Mitreisenden bemerkten es natürlich und sahen ihm die mangelnde Sesshaftigkeit an. Wir Kinder hatten das nicht, „wenigstens haben die Kinder das nicht“; man verbot uns das Herumlaufen oder spielte mit uns, so saßen Sandra und ich im Abteil fest, mit den zu kurzen Kinderbeinen, den über dem Boden baumelnden Füßen. Eustachius ließ uns nicht umherlaufen wie die anderen Kinder umherliefen, antiautoritär war ein Luxus, den man sich nur auf dem Boden einer ausgeprägten Sesshaftigkeit leistete, während wir, Sandra und ich, immer so still saßen und so wenig auffielen, dass sich sogar unsere Großeltern Lilly und Hannes in unserer Stille verstecken konnten. Nur der Zug schlängelte sich, einer aus Eisengliedern zusammengesetzten Leine gleich, durch die grasige und narbige Landschaft, vor 40 Jahren waren die Strecken krummer als heute, und Johnny sagte: „Das Wegenetz der Bahn folgt anderen Gesetzen als das Straßennetz“, und Stach sagte: „Das Wegenetz einer Flucht zieht man ein Leben lang hinter sich her.“

Mit dem Beitrag „Simone denkt an Eustachius“ beginnt die neue Serie Wegstücke. Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. Der erste, den wir ihnen in drei Auszügen vorstellen wollen, steht unter dem Titel „Zugfahren“.

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Pongoland https://der-siebte-sprung.de/pongoland/?pk_campaign=feed&pk_kwd=pongoland Tue, 08 Apr 2014 06:22:11 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=443 ]]> Schimpansen #7terSprung

Pongoland: das Menschenaffenhabitat des Leipziger Zoos (Pongo: der lateinische Name der Gattung Orang Utan).

Die weltweit größte Menschenaffenanlage stellt sich für den Zoobesucher als Nachbildung eines Forschercamps an der Elfenbeinküste dar. Als Wolfgang-Köhler-Primaten-Forschungszentrum, das wissenschaftliche Forschung mit zeitgemäßer Tierhaltung und -präsentation verbindet, gehört sie zur Abteilung Vergleichende und Entwicklungspsychologie des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie.

Zoobesucher haben die Möglichkeit, die Menschenaffen in den Außen- und Innengehegen der Anlage zu beobachten und sich über die Durchführung der wissenschaftlichen Studien zu informieren. Mittelpunkt ist eine 12 bis 19 Meter hohe und 1.600 m² große Tropenhalle mit fünf naturnahen Anlagen. Künstliche Fels- und Uferformationen sowie ein tropischer Baum- und Vogelbestand gestalten die Lebensbedingungen der Menschenaffen nach.

Erforscht werden Verhalten und Kognition (Wahrnehmungsfähigkeit, Selbstbilder, Abstraktionsvermögen u.a.) bei den vier Menschenaffenarten Orang Utan, Gorilla, Schimpanse und Bonobo. Tierexperimente und Tierversuche im herkömmlichen Sinne finden in der Forschungseinrichtung nicht statt, Experimente beruhen auf Interaktion mit den Affen. Im Übrigen wird ihr Verhalten beobachtet. Leiter des Forschungszentrums sind der amerikanische Anthropologe Michael Tomasello und der spanische Tierpsychologe Josep Call.

Die am Vorbild des Yerkes National Primate Research Center in Atlanta orientierte Anlage wurde am 1. April 2001 eröffnet. [vgl. wikipedia-Artikel] ]]> 443 Ambrosiana https://der-siebte-sprung.de/ambrosiana/?pk_campaign=feed&pk_kwd=ambrosiana https://der-siebte-sprung.de/ambrosiana/?pk_campaign=feed&pk_kwd=ambrosiana#respond Sun, 23 Feb 2014 08:12:12 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=213 ]]> Ambrosiana - Ulrike Draesner #7terSprung

Ambrosiana: Biblioteca Ambrosiana in Mailand, eine der bedeutendsten europäischen Bibliotheken für mittelalterliche Schriften und Dokumente wie Zeichnungen, Graphiken und Urkunden. Den Hinweis auf die dort aufbewahrte hebräische Bibel, die das Ende der Menschheitsgeschichte als Tierwerdung des Menschen darstellt, verdanke ich Giorgio Agamben, bei dem ich ihn nicht wiederfinde.
Eustachius Grolmann:

„… da säßen die Gerechten in paradiesisch lichten Schatten, verzehrten die biblischen Ungeheuer, diese mächtigen Vorräte Gottes, etwa den Fisch Leviathan, zusammengerollt in den Wassern, größer als der Erdmond, ebenso den roten Ochsen Bethemoth, und offenbarten dem Betrachter ihr tierisches Antlitz: den Reißschnabel des Adlers, die widerleuchtenden Augen der Raubkatze, das schnatternd gespitzte Affenmaul.“

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verzogen https://der-siebte-sprung.de/verzogen/?pk_campaign=feed&pk_kwd=verzogen https://der-siebte-sprung.de/verzogen/?pk_campaign=feed&pk_kwd=verzogen#respond Sun, 02 Feb 2014 20:20:52 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=126 ]]> verzogen-ulrike-draesner
verzogen: lange Zeit hieß der Roman „Die Verzogenen“. Der Begriff umreißt die Ausgangsfrage: welche Folgen haben die Zwangsvertreibungen in Polen und Deutschland von 1945? Was ist für die betroffenen Menschen aus dem Lot geraden? Welche Ängste begleiten sie seither?
Meine weibliche Vaterverwandtschaft hortete Lebensmittel. In den Kammern einer Großtante, die 2013 in hohem Alter verstarb (Jahrgang 1916) fanden sich 53 Honiggläser, 119 Zigarettenstangen, über 500 Wein- und Kognacflaschen, 44 Flaschen Eierlikör, 57 Dosen mit eingemachten Pfirsichen. Und vieles mehr.
Genauigkeit, zwanghafte Gründlichkeit, Sehnsucht nach Besitz? Eustachius Grolmann rückt Bilder gerade. Die Geste gilt nicht eigentlich dem Bild, sie gilt der Wand. Wände müssen stehen, fest sein.
Da die meisten Menschen bei dem Wort „verzogen“ an Kindererziehung denken, bekam der Roman einen anderen Titel. Doch das Motiv der „Verzogenheit“ durchzieht ihn. Man ist tatsächlich „unbekannt verzogen“ (obwohl man sehr wohl weiß, wie die neue Adresse heißt).

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Vlek spricht (Yerkish) https://der-siebte-sprung.de/vlek-spricht-yerkish/?pk_campaign=feed&pk_kwd=vlek-spricht-yerkish https://der-siebte-sprung.de/vlek-spricht-yerkish/?pk_campaign=feed&pk_kwd=vlek-spricht-yerkish#respond Sat, 01 Feb 2014 09:09:09 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=115 ]]> (Polski: Małpy. Übersetzung: Karolina Kuszyk)

Eustachius Grolmann, Jahrgang 1930, Kriegskind, Flüchtling, fürchtet sich vor Menschen. Er weiß warum. Mit Tieren hingegen versteht er umzugehen. Er ist alt, doch eine Frage lässt ihn, den Neurologen und Verhaltensforscher, nicht los: Wie kann es sein, dass Menschen Menschen töten? Warum sind Menschenaffen anders? Sind sie es wirklich?

Als er zu studieren beginnt, glaubt man an das Gute wenigstens in diesem Geschöpf: innerhalb einer Art töten sie einander nicht.

Seine Tochter Simone sieht das anders:

„Er hat 40 Jahre an Primaten geforscht. Bei ihm meinte Primaten: Menschenaffen. Ich forsche seit über 20 Jahren an Primaten: Affen und Menschen. Stach interessierte das Gehirn. Mich interessieren Gehirn und Verhalten. Affen sind Rudelwesen. Wer mit anderen lebt, muss sich in anderen spiegeln. Er muss sie berechnen können. Listig sein. Täuschen, tricksen. Das äffische Wesen liegt nicht in Nachahmung. Darin sind sie nicht einmal besonders gut. Das äffische Wesen ist Betrug.“

Simone:

„Sehen Sie sich Julys Körper an. Sie legen Ihre Hand auf Julys und bemerken, dass Ihr Daumen länger ist. Sie fassen einen jun­gen Bonobo um den Oberarm und haben nie im Leben so harte Muskeln gespürt. Sie ziehen an seiner Unterlippe und staunen, wie viel mehr Lippe er hat als sie. Sie schauen ihm in die Augen und stoßen auf einen Blick, so forschend wie der Ihre.“

Die Forscherin schob den Computer zur Seite, die Beamerfläche wurde blau, keine Figuren, keine Schatten, nur die Höhle, die Zuhörer, wir.

„Ohne diesen Spiegel hätten wir keine Möglichkeit zu verste­hen, was es heißt, ›ein nackter Affe‹ zu sein. Menschenaffen äh­neln uns nicht nur in den kodierenden Gensequenzen. Was das angeht, sind wir auch extrem nahe mit Fliegen verwandt. Entscheidend ist die Orchestrierung der Bausteine. ›Dark matter‹ nennt man, was dafür zuständig ist, dark matter bestimmt, wie aus dem immer gleichen Material Fliegen oder Menschen zusam­mengefügt werden, oder Schimpansen.

Ein Mysterium. Wir haben keine Ahnung, was geschieht.

Nur eines wissen wir:  Ohne Bonobos oder Schimpansen wären wir sehr viel einsamer auf dieser Welt.“

Forschungen seit den 70er Jahren belegen, dass es in Affengruppen Kindstötungen gibt. Neue Filmdokumente der BBC zeigen einen darüber hinausgehenden Fall: eine Gruppe jugendlicher Schimpansen überfällt friedlich auf einem Baum sitzende Mitglieder der Nachbargruppe ohne jegliche Vorwarnung oder erkennbaren Anlass. Ein Affenbaby wird aus dem Fell seiner Mutter gerissen und von den Angreifern zerstückelt. Danach reichen sie, gemütlich auf die Äste des „eroberten“ Baumes verteilt, Teile des Körpers herum und benagen sie. Das Verhalten wirkt rituell. Ebenso der Aufbruch zuvor: unnachahmlich heimlich war die Gruppe der Halbstarken von der eigenen Horde fortgeschlichen, geduckt, in Reih und Glied. Es fehlte nur die Kriegsbemalung. (BBC Video Chimps on the hunt)

Menschenaffen sind unsere nächsten Verwandten. Eustachius fragt nach den neurologischen Strukturen ihrer Entscheidungen, nach ihren sozialen Determinanten. Der Psychologe und Affenforscher Ernst von Glasersfeld entwickelte Anfang der 70er Jahre am Yerkes International Primate Research Center in Atlanta eine Affensprache aus ursprünglich 256 Lexigrammen: die abstrakten, nicht mimetischen Zeichen werden aus ausgewählten geometrischen Grundformen unter Verwendung verschiedener Farben auf einem schwarzen Quadrat aufgebaut. Forscher schließen die Tastaturen an Computer an; die Affen, vorrangig Bonobos und Schimpansen, kommunizieren durch Tastendruck. Die Grammatik von Yerkish folgt dem Englischen: Die Primaten bilden einfache Sätze, sie können Fragen stellen Befehle geben oder befolgen, Feststellungen treffen.

„Er sagte, ich brauche mir keine Sorgen zu machen, strich mir über die Haare und fing an, wie früher, als ich klein war, von den Affen zu erzählen. Wie oft er nachts aufgestanden sei, um den Flüstergesprächen der Bonobos zu lauschen. Den kleinen und größeren Schnutenlauten. Dass sie so erstaunlich viel von unserer Sprache verstünden, selbst aber nicht sprächen in unserem Sinn, weil die Produktion der Lautstrukturen stark genetisch fixiert sei. Während die Lautverarbeitung ein offenes System bilde, in dem wir und auch Affen fast alles lernen könnten. Dass wir in Wirklichkeit keine Ahnung hätten, wie der Übergang vom Grunzen zum Sprechen zu erklären sei. Dass, falls er einmal nur mehr grunze, ich ihm helfen solle.“

 Vlek spricht. Das Affenkapitel

Lange Zeit hatte der Roman ein Affenkapitel. Gesprochen wurde es von Vlek, einem von Eustachius heimlich im Haus gehaltenen jungen Bonobo. Vlek ist, anders als seine Gefährtin Monty, entkommen; Eustachius versucht, ihn wieder einzufangen. Der fast erwachsene Bonobo hangelt sich von Gartenbaum zu Gartenbaum. Die im Text verwendeten Zeichen sind die der Sprache Yerkish nacherfundenen Lexigramme für  ‚Eustachius‘ und ‚Vlek‘.

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