Essen – Sieben Sprünge vom Rand der Welt https://der-siebte-sprung.de Ulrike Draesner Thu, 13 Nov 2014 09:04:16 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4 63645751 Essen (5) https://der-siebte-sprung.de/essen-5/?pk_campaign=feed&pk_kwd=essen-5 Thu, 13 Nov 2014 09:04:16 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=1165 ]]> © Ulrike Draesner

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Boris erzählt, wie Boris und Simone versuchen, sich miteinander zu unterhalten
Gekreuzte Holzspeere, ein wagenradgroßer Teller mit Fladen zum Selberrollen. Ich war stolz darauf, gleich zu Anfang festgelegt zu haben, dass ich einlud. Sie sagte »nice of you«, als wäre sie noch im Institut, und bestellte einen Aperol.
Ich hatte ihr nach dem Vortrag geschrieben, eine kleine Ewigkeit an den paar Zeilen gefeilt, nicht zu nah, zu aufdringlich, zu distanziert, wie machte ich ihr deutlich, dass es mir um sie ging, nicht um ihren Vater und nicht um die Affenforschung, nein, dass sie, Simone, es war, die mich lockte, die mir gefiel. Am Ende schrieb ich das so direkt und sagte in dem Versuch, selbstironisch zu sein, als Pole dürfe ich, nein, müsse ich mit der Tür ins Haus fallen, Schwerenöter, Handkuss, mindestens.
Sie antwortete sofort. Empört! Dass ich ihr meine Nationalität verschwiegen hätte (sie hatte nicht gefragt). Dass sie mir, hätte sie es gewusst, den Auftrag nicht erteilt hätte (eben). Dass ich es ihrem Vater hätte sagen müssen (der hatte es nach drei Minuten erraten). Als ich das tippte, war klar, dass sie sich nun entweder nie mehr meldete oder dass ich eine Chance bekäme.
Der Betreff ihrer nächsten Mail lautete »Affenbesichtigung«. Sollte ich, als Affe, besichtigt werden? Ich beschloss, das Wort als Zeichen von Humor zu nehmen. Sie lud mich in ihr Institut ein, ich sagte zu.
Als ich eine Woche später (täglich Sport, weder Wein noch Bier) zum vereinbarten Termin dort erschien, hieß es, die Forscherin befinde sich in einer Konferenz. Die Empfangsdame rief eine Studentin an, die mich durch uninteressante, holzgetäfelte Büroflure führte, um mir am Ende zwei ebenso uninteressante Affenspielräume zu zeigen. Ich sagte, ich müsse mindestens 20 Minuten bleiben um herauszufinden, ob meine Tierhaarallergie ausbreche. Wir warteten eine halbe Stunde, ich hoffte, meine Gastgeberin käme noch, sie kam nicht.
Am Abend desselben Tages schickte sie eine entschuldigende SMS. Wir mailten weiter (ich: Warum lassen Sie Affen in Gefangenschaft leben? Sie: Weil ihre Habitate zunehmend von uns Menschen zerstört werden, weil in ihrer Heimat Bürgerkrieg herrscht. Ich: Aber nicht nur), verabredeten uns, stritten (Sie: Stimmt. Sie werden auch gegessen. Ich: Lenken Sie nicht ab. Sie halten sie in Gefangenschaft, weil Sie forschen wollen. Sie: Weil die Menschenartigen den Planeten beherrschen. Zufrieden jetzt? Ich: Ja. Aber müssen Sie mitmachen? Sie: Wollen Sie die Tiere einfach auswildern?),
sie: »Sie Romantiker!«
Sie, entspannt vor mir. In all ihrer Schönheit und Brillanz. Eng geschnittene, blaue Jacke, blaue dreiviertellange Stoffhosen, schwarze Stiefel.
Wir hockten mit unbequem angewinkelten Beinen auf Bastmatten. Grolmann war drei oder vier Zentimeter größer als ich. Wenigstens das fiel im Sitzen nicht auf.
»Ich bin so blöd«, sagte die Forscherin. Das Grün ihrer Iris schien aus dem Auge hinaus als zarter Strich auf Unter- und Oberlid gewandert zu sein. Kein Lidschatten, kein Kajal, sichtbar nur bei bestimmtem Lichteinfall, jetzt.
Sie biss in ein Stück Fladen und schob kauend nach: »Sie, mein Lieber, aber auch.«
Mein Lieber!
Gut, ich wusste, wie es gemeint war. Das wusste jeder Idiot. Dennoch: Sie hätte es nicht sagen müssen. Ich brachte ein vergleichsweise ruhiges »Warum?« heraus, schaute sie an, sprich: starrte ihr in die moosgrünen Augen, und sagte: »Ihres Vaters wegen natürlich. Ich schreibe Ihnen einen harmlosen Abschlussbericht, befreunde mich mit ihm, gehe ihm auf den Leim, durchschaue ihn nicht im Geringsten.«
»Das scheint Sie nicht zu stören?«
Es war Mitte März, kalt und regnerisch. Umso heißer kam mir die Luft in diesem afrikanischen Restaurant vor. Am Nachbartisch wurde gegart, Erlebniskochen, oder wie das hieß; rundum roch es nach exotischen Gewürzen und Fleisch; im Hintergrund lief Cosmopop.
»Im Gegenteil«, sagte ich und nippte an meiner Apfelschorle. Sah wenigstens farblich aus wie Wein. Bei gutem Willen. Viel gutem Willen.
»Es zieht mich an. Wie Sie!«
Ich wusste nicht, ob sie wusste, dass »wie du« oder »wie Sie« nicht nur über Arten hinweg, sondern auch zwischen Menschen als Zauberformeln wirkten. Nun ja, das musste sie wissen.
Sie holte eine kleine silberne Brille aus ihrer Handtasche, um das Menü zu lesen. Der schlaksige Kellner, vermutlich der Sohn der Familie, der sich hier sein Taschengeld aufbesserte, hatte uns nur eine Karte gebracht. Wir beugten uns darüber.
Während wir auf das Essen warteten, fragte ich nach Bonobos. Sicheres Terrain! Es handelte von Affen. Dachte ich.
Und sie? Erzählte von Männerhoden. Die seien im Vergleich zu Schimpansenhoden relativ klein, was darauf hinweise, dass stabile heterosexuelle Beziehungen die Menschengesellschaft seit Jahrtausenden dominierten. Zunächst wusste ich nicht, was ich mit dieser Information anfangen sollte. Wollte sie sich über mich lustig machen oder auf seltsame Weise Rollenmodelle diskutieren? Nach einer Weile begriff ich, dass Anthro-Biologen von Körpern ausgingen und über Körper nachdachten, und dass Simone davon sprach, weil es sie beschäftigte.
Sie sagte, die Homo-sapiens-Frauen hätten Treue gegen Schutz und männliches Engagement getauscht, bei Biologen heiße das »kooperative Brutpflege«. Als ich fragte, ob sie glaube, dass in absehbarer Zeit die Hoden menschlicher Männer größer würden, lachte sie. Als ich ihr sagte, dass ich ihren Gedanken, unsere Anatomie erzähle eine Geschichte von Liebe und Bindung, wunderbar finde, denn ich fand ihn wunderbar und bemerkenswert, lächelte sie, und der Junge in Hängejeans und T-Shirt trug die Hauptspeisenfladen auf, groß wie Wagenräder.

Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. ”Boris erzählt, wie Boris und Simone versuchen, sich miteinander zu unterhalten” ist der letzte von fünf Beiträgen, die wir Ihnen unter dem Titel “Essen” vorstellen möchten.

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Essen (4) https://der-siebte-sprung.de/essen-4/?pk_campaign=feed&pk_kwd=essen-4 Mon, 10 Nov 2014 08:56:56 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=1161 ]]> © Flickr.com/pixsellr

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Hannes, angekommen in Bayern, geht in den Wald
Anfang August hackte er bei einer Witwe im Dorf zwei Stunden Holz, im Gegenzug lieh sie ihm ihr Fahrrad für den Rest des Tages. So behände er konnte, fuhr er damit die Hügel um Wilfing auf und ab.
Seit fast einem Jahr lebte er hier. Er hatte sieben Kilo zugenommen. Er war neuerlich bei Kräften. Die äußere Armut hätte er ertragen. Die innere setzte ihm zu. Noch immer hingen sie von fremder Hilfe ab.
Von Julius und Feli.
Jeder Tag dieses Lebens demütigte ihn.
Auf der Rückfahrt ging er in den Biergarten am Kloster, Geld in der Tasche, »a Geld«. Er trank eine Maß.
Er hatte den Wilfinger Förster aufgesucht. Der Mann sprach kaum; das Wenige, was er sagte, verstand er, Hannes, nur halb.
Der Zungenschlag war rätselhaft. Gleichwohl nahm er wahr, dass die Leute, redeten sie mit ihm, noch eigens nuschelten, und etwas in ihm, müde und erniedrigt, sagte nur: flieh, flieh, er wusste sich keinen anderen Rat.
Es war eine Überraschung, als er im Biergarten endlich bedient wurde. Die anderen Gäste saßen brütend über ihren graustumpfen Krügen. Jeder wusste, dass er zu den Preußen gehörte. Das war die freundlichere Version. »Polacke« die andere. Untereinander redeten die Einheimischen laut und ebenfalls wenig; ihn sahen sie aus kleinen wimpernlosen Augen an.
Er verirrte sich auf einem schmalen Feldweg oder fuhr absichtlich falsch, lehnte das Rad an eine der wenigen Eichen, schloss es sorgfältig ab, ließ den Schlüssel in die Hosentasche gleiten, jene ohne Loch.
Schilfstängel trieben in dem weichen schwarzen Wasser, »Weiher« wurde es genannt, ein Gletscherloch. Kein Mensch außer ihm schien im Wald unterwegs, alles war mit Aufbau beschäftigt. Sonnenflecken schliefen auf dem mit Tannenzweigen und Zapfen überstreuten Boden, die Buchenstämme glänzten im Nachmittagslicht. Teile der Kronen schwebten als Leuchtraketen über ihm.
Der Vogelgesang war Mitte Juli verstummt. Erschöpft lagen die Felder und Wiesen Wilfings unter der Hitze, in den Stallfenstern des Dorfes kreisten dicke Schwärme von Fliegen, er meinte, sie noch hier zu hören. Nicht einmal Hunde gab es, wie er sie kannte, Pferde nur für den Pflug oder den Bierwagen. Zuhause hatten die Hügel zu den Wangen seiner Frau gepasst. Hier stand der Wald, von Gebirgsflüssen durchschossen, karg, windschief, leicht bläulich in die Luft. Im Dorf war Heimat schon wieder ein großes Wort, gefüllt mit Edelweiß, Gülle und Bier.
Der Strauch wiegte seine eiförmigen, spitz zulaufenden Blätter, die Beeren standen in einem zipfelig wirkenden Kelch. Daneben Wald-Trespe, Brennnesseln, ein roter Holunder. Die Kirschen fielen ihm in die Hand, ihre zahlreichen Samen klemmten sich zwischen die Zähne, er schluckte rasch.
Die gab es kostenlos. Er wollte es einfach halten. Ohne Lärm. So, hatte er gedacht, läge er wenigstens im Wald.
Der Wald setzte ihm seine Stoffe zu.
Die zweite Handvoll.
Dieu! que le son du Cor est triste au fond des bois!
Hatte Förster Priebke ihm damals das Gedicht gezeigt? Oder war es Lilly gewesen, in ihrer Verlobungszeit?
Lilly, die Französisch sprach.
Damit, dass er an den Förster von Wilfing denken würde, hatte er nicht gerechnet. Eine starke geschlossene Gestalt. Er beneidete den Mann. Die grüne Joppe, die Hornknöpfe, das Tragen des Gewehrs, die Sicherheit jedes Schrittes und Griffs, den Drilling an der Backe, den Sechserbock über Kimme und Korn.
Durch ihn indes pfiff der Wind. Die Tollbeeren glänzten schwarz auch in der Hand. Sterben und essen, in jedem seiner Träume ging es darum. Das Beereninnere war weich und dunkelrot, sogar süß, wenn auch Zunge und Gaumen sich zusammenzogen, nachdem er die ersten geschluckt hatte.
Au fond des bois.
Es war unwahrscheinlich, dass man ihn rechtzeitig fand.
Er saß im Gras. Suchte, spürte die Tiefe des Waldes.

Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. ”Hannes, angekommen in Bayern, geht in den Wald” ist der vierte von fünf Beiträgen, die wir Ihnen unter dem Titel “Essen” vorstellen möchten.

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Essen (3) https://der-siebte-sprung.de/essen-3/?pk_campaign=feed&pk_kwd=essen-3 Thu, 06 Nov 2014 08:29:17 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=1144 ]]> Wikimedia/Piklus_Dom Towarowy "Feniks" Rynek 31,32.JPG

Wikimedia/Piklus_Dom Towarowy „Feniks“ Rynek 31,32.JPG

Halka erzählt aus Wrocław
Die neue Person, die auf der Bahnfahrt geschlüpft war, wuchs und wuchs. Sagt wer?
Still und beharrlich? Schubweise?
Ständig, sage ich der Erinnerung.
Leszek kam kaum mehr aus der Universität zurück; er schien sich wohlzufühlen, jedenfalls besser als die Jahre zuvor. Grazyna hingegen verließ die Wohnung immer seltener, kochte und buk immer mehr. Jeden dritten Tag tischte sie nun selbstgemachte Piroggen auf, Weißkäse konnte man um die Ecke in einem der ersten kleinen Läden kaufen, Pilze, die es kaum oder nur getrocknet gab, ersetzte sie durch Zwiebeln und Kraut. Je länger wir blieben, umso ostpolnischer wurde ihre Küche, am Morgen ging Hefeteig in der Schüssel, am Abend der nächste. Mutter formte daraus Kulebiaks unterschiedlicher Größe, brachte den Sobolewskis im dritten Stock welche vorbei, nur um dort oben eine Stunde an dem polnischen Ofen zu sitzen, den man in der Mitte des Wohnzimmers aufmauerte. Im heißesten aller Sommer. Die Hefepasteten füllte sie mit Resten: Fleisch, Fisch, Reis, Gemüse, hartgekochte Eier, Mamuś wurde erfinderisch und setzte Teiggitter obenauf, in denen man mit etwas Mühe den Turm der Lemberger Kathedrale oder die Umrisse des Opernhauses erkennen konnte, und dann stand sie in der Küche und aß das Kunstwerk allein, da Vater und ich in Kulebiak-Streik getreten waren, und Grazyna wurde runder und unbeweglicher davon.
Die Zutaten kamen vom plac Grunwaldzki, Leszeks »herrlicher Kaiserstraße«, einer tausend Meter langen Schuttstrecke, von den Hitlerowcy höchstselbst hergestellt. Der Wind verteilte roten, kalkigen, grauen und rußigen Staub, eine Frau, deren Brüste vor Hunger zu langen Fäden geworden waren, stillte jeden Tag, am Boden hockend, ein Baby. Hier, auf dem Szaber, brachten Adam und ich die Familie durch.
Mit Sachen aus der Paulinenstraße fingen wir an. Zunächst verhökerten wir einen orientalisch anmutenden Aschenbecher aus getriebenem Silber, drei Tassen, Teller und Unterteller des weißen KPM-Geschirrs, Testverkäufe für die teuren, blaugoldenen Stücke aus dem Vertiko im Wohnzimmer. Eine Kristallvase, überschüssiges Bettzeug. Ich suchte mir einen sicheren Platz, das Kind, das wieder Kind werden sollte, ging Wohnungen plündern. Regelmäßig trafen neue Transporte ein, Vertriebene aus den Kresy, Arbeitssuchende aus Zentralpolen.
Wir waren flink. Unsere Haut spannte über den Kehlen wie bei hungrigen Vögeln.
Meine Eltern wussten nichts, der Szaber war kein Ort für sie. Auch, warum Adam in der Küchenkammer schlief – ihr kleines Fenster, ein lufcik, ließ dem Mond kein Spiel –, beschäftigte sie nicht.
An manchen Tagen erhöhte ich alle paar Stunden die Preise, an manchen Tagen ging ich zum Plündern mit. Unser Geheimnis, unsere Wunderhöhle wartete auf uns. Aus ihrem wie ein Auge geformten Frontglas zackten Scherben gegen den Himmel. Die von geschnitzten Jugendstilblumen umrankten Schaukästen am Ein- und am Ausgang waren zerstört, zwischen zersplitterten Balken zwängten wir uns hindurch. Zerborstene Regale, Lebensmittel und Kleidungsstücke unter niedergegangenem Stuck. Rasch lernten wir, uns in den meterhohen, geborstenen Räumen zu bewegen, das wenige Licht zu nutzen, das hier durch einen Mauerriss fiel, dort durch ein Loch in der Decke. Staub schwamm in jedem Strahl. Toten wichen wir aus, sie waren längst leer.
Das Gebäude wirkte brüchig, jeder Durchschlupf gefährlich und schmal. So gehörte es uns, das Kaufhaus der Gebrüder Barrasch, hallend, unheimlich, weit, ruiniert. Wir erwarteten alles, Feinde, Verfolger, Räuber, sogar Leichen, die seufzend nach uns griffen. Das hätten wir uns nie eingestanden, wir hielten uns an der Hand. In den Rohren gluckerte und knackte es, Wind pfiff durch die Mauerrisse, als umtanzten Horden höllischer Unterteufel das einstige Luxusreich. Waren wir zwischen atemberaubenden Staubwolken, undefinierbaren Gerüchen und den aus übergroßen Tiefen hervorgurgelnden Lauten tiefer in die geplünderten, in ihrer Leere und Größe halluzinatorischen Hallen gedrungen, begannen unsere Augen, nach Diebesgut zu suchen; nur unsere Herz- und Beinmuskeln vergaßen die Angst nicht und zuckten, als lebten sie in Hasenkörpern, bei jedem Geräusch.
Höhepunkt unseres Tages, Mutprobe, süßes Geheimnis. Im Erdgeschoss fanden wir unter von Ziegeln und Mörtel verschütteten Tischen eine Kollektion feinster Lederhandschuhe für Damen. Zerkratzte gaben wir billiger ab; nicht mehr zu rettende schnitten wir auf, verschenkten die Lederflecken, lockten Kunden an. Die Farben waren sagenhaft, ein Traum inmitten der Trümmer. Und erst die schmeichelnde Festigkeit der tierischen Haut. Auch uns hatten Hände und Augen geschmerzt, als wir den Schatz entdeckten, diese Werkstücke der einst so leuchtenden, zivilisierten Welt. Ich behielt mir ein safranfarbenes Paar, dessen feine, umschließende Kraft mich die Schrammen und Risse meiner Beutehände vergessen ließ. Adam drückte seine Lippen auf meine bekleidete Rechte, und wir, selbst staubig und heiß, machten ein paar unbeholfene Tanzschritte durch das unter seinem Gewicht stöhnende Höhlensystem der Barraschs, ihren zerblätternden Wespendom aus Holz und Beton, das verlassene Wabenreich eines zu neuen Kriegen ausgezogenen Hornissenschwarms.
Vorsichtig krochen wir mit unserer Beute durch ein Ziegelloch auf der Rückseite hinaus. Dort räumten deutsche Frauen und Männer die Straße von Trümmern. Weiße Flecken bewegten sich vor unseren Augen, wir blinzelten, freuten uns: Das Gesetz, das Deutsche verpflichtete, sich mit einer weißen Binde am Oberarm zu kennzeichnen, wirkte Wunder. Es sah aus, als wollten die Hitlermenschen sich immer von neuem ergeben. Über ihnen zuckten die Feuerscheine am Himmel, łeb mi pęka, Tatuś sagte das gern, ihm glühte der Kopf von Fußnoten, mir von Menschen, Beute und Staub.

Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. ”Halka erzählt aus Wrocław” ist der dritte von fünf Beiträgen, die wir Ihnen unter dem Titel “Essen” vorstellen möchten.

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Essen (2) https://der-siebte-sprung.de/essen-2/?pk_campaign=feed&pk_kwd=essen-2 Mon, 03 Nov 2014 09:13:20 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=1140 ]]> © Flickr.com/Geert Orye

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Eustachius erinnert sich
Zuweilen kam mein gesamtes Leben mir so vor: einen engen, nur einen Mensch breiten Weg war ich gegangen. Die heimliche Melodie meines Blutes, der Puls jedes Muskels, jedes Nervs: »Nimm dich in acht!«
Vor Emil, der mir an der Tür auflauerte und mich nicht mehr losließ, vor Lehrern und Vater, die schlugen, vor Soldaten, die marschierten, vor Feinden, die unsere Wohnung wegnahmen, die Mutti bedrohten, auf Vati zielten, vor Volksgenossen, die mich diesem Feind in die Schusslinie stellen wollten, vor Jungen, die mir den Brotkanten stahlen, den ich zuvor selbst gestohlen hatte, vor Mädchen wie jenem, das mit zerrissenem Kleid und dreckigen Beinen im Lager Moschendorf saß. Im Gras. Zärtlich hielt es ein noch federloses Vogelbaby in der Hand. Das blanke schwarze Auge des Kükens schimmerte übergroß, sein fast durchsichtiger Körper pulste. Das Mädchen, es war kaum jünger als ich, drehte bedächtig die Hand, hob sich das Vögelchen bewundernd ans Gesicht und roch an seinem nackten Hals. Mit einer geübten Bewegung riss es dem Tier einen Flügel aus und drückte den Mund in die wunde Stelle.
Saugte daran.
Das Mädchen war geschickt, kein Tropfen fiel in seinen Schoß.
Es biss zu, aß alles auf.
Den Schnabel spie es am Ende mit einer kleinen, fast eleganten Bewegung des Mundes aus.
All die Zeit über blickte es mich unverwandt an. Und ich schaute ebenso unverwandt zurück.

Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. ”Eustachius erinnert sich” ist der zweite von fünf Beiträgen, die wir Ihnen unter dem Titel “Essen” vorstellen möchten.

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Wolf und Fuchs (3) https://der-siebte-sprung.de/wolf-und-fuchs-3/?pk_campaign=feed&pk_kwd=wolf-und-fuchs-3 Thu, 16 Oct 2014 08:30:24 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=1074 ]]> © Flickr.com/Tambako The Jaguar

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Auch Hannes begegnet dem Wolf:
(Kriegsgefangenschaft in Russland)

Niemand draußen wusste, ob oder wo er lebte. Er ging in der Lagerwelt auf, existierte nur dort. Es gab keinen Außenraum mehr. Seine Zigaretten tauschte er gegen Brot. Das alte Festhalten an Zahlen, die Bäckerregeln im Blut. Im Sommer arbeiteten sie auf einer Kolchose; von ihrem Gehalt zahlten sie Steuern und Gebühren an das Lager, das Wenige, was übrig blieb, wurde auf ein Konto überwiesen. Einmal durfte er 150 Rubel abheben, sie waren im Handumdrehen verbraucht und, wie er hoffte, klug verteilt. Er hätte gewusst, wie man einen Hasen fing; es gab keine Hasen. Nicht einmal Kaninchen. Die Russen hungerten ebenfalls. Manchmal schob er sich, indem er sich rasch bückte, einen Halm in den müden Mund. Manchmal erbrach er davon.
Davon oder von der Leere im Kopf. Er wachte auf und wusste, wer tot war: er selbst.
Da lachte er laut.
Andere, die es auch wussten, schauten ihn an.
Er verlor zwei Zehen, lächerlich. Der Weg zu seinem Vater war weit gewesen. Gebückt wühlte der alte Mann zwischen Scherben in einem Boden, der aus Knochen bestand. Er schien glücklich, trug einen weißen Indianerzopf, sah den Sohn lange an und erzählte die Geschichte von Odysseus und der Kälte, die in der Odyssee vergessen worden war. Odysseus, der schlaue Hund, hatte entdeckt, dass, wer fror, nur ein Feuer in sich entzünden musste. Dann schmolz sein Fett, rasend schnell schmolz er mit ihm dahin, dabei wurde ihm warm.
Ihm wurde warm.
Bisweilen hörte er nachts Wölfe heulen. Sie waren wirklich Tiere, das tröstete ihn. Er konnte den Mond anschauen wie sie. Die Wölfe heulten, obwohl sie zuhause waren.

Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. ”Auch Hannes begegnet dem Wolf” ist der zweite von sechs Beiträgen, die wir Ihnen unter dem Titel “Wolf und Fuchs” vorstellen möchten.

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