Erinnerung – Sieben Sprünge vom Rand der Welt https://der-siebte-sprung.de Ulrike Draesner Sun, 17 Aug 2014 10:59:48 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4 63645751 Kuckucksuhr https://der-siebte-sprung.de/kuckucksuhr/?pk_campaign=feed&pk_kwd=kuckucksuhr Thu, 03 Apr 2014 07:43:09 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=431 ]]> Kuckucksuhr #7terSprung Ulrike Draesner

die Kuckucksuhr: Was haben Autoren und ihre Figuren miteinander zu tun? Beantworten kann das keiner, aber Geschichte lassen sich dazu erzählen. So auch diese: als Kind schlich ich manches Mal nachts in die Diele zwischen dem Schlafzimmer meiner Eltern, meiner Schwester und dem meinen, und hielt die Kuckucksuhr an. Hatten die anderen keine Ohren? Wie konnten sie dieses Rufen ertragen, diesen Vogel, der so gnadenlos die Stunden wegschrie? Im Wald mochte ich ihn, auch wenn mein schlesischer Großvater meinte, an der Zahl der Rufe die Jahre ablesen zu können oder zu müssen, die ihm zum Leben noch blieben.

Die Uhr war nicht ererbt – wer hätte ein so sperriges Werk in einen Fluchtkoffer gepackt. Dennoch war deutlich: Hannes, die Großvaterfigur des Romans, kam mit einer Kuckucksuhr auf mich zu. Historisch-biographisch richtig ist das nicht.

Die Figur liebt die Kuckucksuhr. Sie ist ein Stück zuhause.

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Postmemory https://der-siebte-sprung.de/postmemory/?pk_campaign=feed&pk_kwd=postmemory Mon, 10 Feb 2014 18:30:15 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=149 ]]> postmemory - ulrike draesner
Der Begriff stammt von Marianne Hirsch, die ihn erstmals Anfang der 90er Jahre in einem Artikel zu Art Spiegelmans Maus benutzte. Postmemory, so die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Rumänien geborene Literaturwissenschaftlerin auf ihrer Website, beschreibe das Verhältnis der Nachfolgegeneration zu den persönlichen, kollektiven und kulturellen Traumata, die die Vorgängergeneration erfuhr. Hirsch entwickelte das Konzept anhand eigener Erfahrungen sowie unter Auswertung literarischer und künstlerischer Darstellungen des Phänomens der „fremden Erinnerung“. Die Erfahrungen der Vorgängergeneration(en) werden, vermittelt durch häufig mehr oder minder anekdotische oder nur rudimentäre Erzählungen, Bilder und Verhaltensweisen, inmitten derer die Nachfolgegeneration aufwuchs, „erinnert“. Hirsch beobachtet eine derart intensive Weitergabe dieser Erlebensinhalte, dass Kinder und Kindeskinder sie als eigene Erinnerungen wahrnehmen. Postmemory bedeutet eine Verbindung in die Vergangenheit im wesentlichen durch Imagination, Projektion und nachempfindende Erfindung. Wer mit überwältigenden, ererbten Erinnerungen aufwächst, beherrscht von Geschichten, die der eigenen Geburt oder Bewusstwerdung vorausgingen, stehe, so Hirsch, in der Gefahr, die eigene Lebensgeschichte zu verlieren: sie wird durch die Vorfahren verschoben, sogar entleert. Zumindest indirekt wird sie durch traumatische Bruchteile von Ereignissen geformt, die sich, jedes Verstehen übersteigend, der (Be)Sprechbarkeit noch immer entziehen. Die Ereignisse liegen in der Vergangenheit – ihre Wirkungen zeigen sich heute.

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Memories Cascading https://der-siebte-sprung.de/memories-cascading/?pk_campaign=feed&pk_kwd=memories-cascading Tue, 04 Feb 2014 09:00:29 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=124 ]]> memories-cascading-ulrike-draesner

memories cascading: ein der Forschungsliteratur zu Postmemory oder transgenerationeller Traumatisierung entnommener Begriff. Was Kinder unbewusst von Eltern übernehmen, betrifft nicht nur Gefühle, Gefühlsstrukturen und Habitus, sondern kann Träume und Ängste generieren und zur Entwicklung körperlicher Symptome führen. Manchmal, wenn ich von meinem Romanprojekt erzählte, antworteten mir Freunde oder Bekannten, dass sie manchmal Träume träumten, die sie dem Leben eines ihrer Elternteile zuordnen könnten. Begleitet von irrationalen Ängsten vor Hunger, Schnee oder Regen, davor, dass ein Geschwisterkind sterben könnte, vor Donner und Blitz. In manchen Wochen sei das intensiv, in anderen verschwinde es zur Gänze.
Das Phänomen ist bekannt, doch wenig erklärt. Memories cascading – Erinnerungen, die wie Wasser, mit Druck, durch den Kopf rauschen, dabei fallen und verharren, wieder fallen, scheint mir ein gutes Bild dafür. Ein unwillkürlicher Prozess – Fall und Weiterfall des Falles, Flüchtling gewesen zu sein.
In den 90er Jahren kannte ich einen amerikanischen Dichter, der, obwohl er erst in seinen 40ern war, starke, bis zur Lähmung führende Rückenprobleme bekam. Als ich ihn ein halbes Jahr später wiedertraf, ging er aufrecht und erzählte, dass die Ursache nach langen aufwendigen Untersuchungen herausgefunden worden sei: er hinke, obwohl es keinerlei anatomische oder andere eigenkörperliche Gründe dafür gebe. Sein Vater allerdings habe auf Grund einer Kriegsverletzung auf dem linken Bein gehinkt – mein Bekannter hatte als Kleinkind diese Gangart übernommen, weil er es für die einzige Weise hielt, sich durch die Welt zu bewegen. Sein Hinken war dabei so unsichtbar geblieben, dass es nie bemerkt wurde – nur sein Bewegungsapparat hatte darunter gelitten.

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