Emil – Sieben Sprünge vom Rand der Welt https://der-siebte-sprung.de Ulrike Draesner Mon, 03 Nov 2014 09:15:24 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4 63645751 Essen (2) https://der-siebte-sprung.de/essen-2/?pk_campaign=feed&pk_kwd=essen-2 Mon, 03 Nov 2014 09:13:20 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=1140 ]]> © Flickr.com/Geert Orye

© Flickr.com/Geert Orye

Eustachius erinnert sich
Zuweilen kam mein gesamtes Leben mir so vor: einen engen, nur einen Mensch breiten Weg war ich gegangen. Die heimliche Melodie meines Blutes, der Puls jedes Muskels, jedes Nervs: »Nimm dich in acht!«
Vor Emil, der mir an der Tür auflauerte und mich nicht mehr losließ, vor Lehrern und Vater, die schlugen, vor Soldaten, die marschierten, vor Feinden, die unsere Wohnung wegnahmen, die Mutti bedrohten, auf Vati zielten, vor Volksgenossen, die mich diesem Feind in die Schusslinie stellen wollten, vor Jungen, die mir den Brotkanten stahlen, den ich zuvor selbst gestohlen hatte, vor Mädchen wie jenem, das mit zerrissenem Kleid und dreckigen Beinen im Lager Moschendorf saß. Im Gras. Zärtlich hielt es ein noch federloses Vogelbaby in der Hand. Das blanke schwarze Auge des Kükens schimmerte übergroß, sein fast durchsichtiger Körper pulste. Das Mädchen, es war kaum jünger als ich, drehte bedächtig die Hand, hob sich das Vögelchen bewundernd ans Gesicht und roch an seinem nackten Hals. Mit einer geübten Bewegung riss es dem Tier einen Flügel aus und drückte den Mund in die wunde Stelle.
Saugte daran.
Das Mädchen war geschickt, kein Tropfen fiel in seinen Schoß.
Es biss zu, aß alles auf.
Den Schnabel spie es am Ende mit einer kleinen, fast eleganten Bewegung des Mundes aus.
All die Zeit über blickte es mich unverwandt an. Und ich schaute ebenso unverwandt zurück.

Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. ”Eustachius erinnert sich” ist der zweite von fünf Beiträgen, die wir Ihnen unter dem Titel “Essen” vorstellen möchten.

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Hannes erinnert sich (2) https://der-siebte-sprung.de/hannes-erinnert-sich-2/?pk_campaign=feed&pk_kwd=hannes-erinnert-sich-2 Mon, 06 Oct 2014 07:25:23 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=1040 ]]> alte schlesische Mohnmühle © Ulrike Draesner

alte schlesische Mohnmühle
© Ulrike Draesner

»Ein schweigsamer Bäcker ist ein braver Bäcker«, sagte Mutter enthusiastisch, »er spuckt nicht in den Teig!«
»Hmmm«, machte Dr. Winsch, seine Begleiterin verzog keine Miene.
Mutter fuhr fort: man brauche Emil für Extraleistungen. Emil werde gern backen für andere Kinder, Kränkere, das wäre eine volksmysterische Geste, sie denke an den Ur-Jäger, den Ur-Fischer, den Ur-Bauern, uralte Rhythmen, der Wandel von Boden, Wasser und Licht, ein geistig-züchterisches Handeln aus ungestillt titanischem Geist. Selbstverständlich ein Geschenk, ein Gemeinschaftsgut, urgermanisch auch dieses: Blut zu Blut, Bein zu Bein, Kuchen zu Kuchen.
Klara Grolmann, exakt gescheitelt, Haarknoten im Nacken, die Schläue der Augen hinter der Nickelbrille verborgen. Die Untersuchungen am Gehirn der Patienten, sagte sie sachlich, seien anstrengend für das Personal, gern stifte die Familie etwas, einmal pro Woche ein Brötchen für jeden Patienten, für das Personal zwei, sagte sie knapp und klar.
Er denke an zwei Adressen, antwortete Dr. Winsch, man habe die Anstrengungen verdoppelt, die Forschung blühe.
»Selbstverständlich«, antwortete Mutter, »zwei Kinder hier, zwei Häuser versorgt«, und die hakennasige Ärztin, die aufmerksam gefolgt war, ergänzte: »Ihr Mohnkuchen soll hervorragend sein«, drehte sich zu Lilly und fragte im selben Atemzug: »Möchten Sie ein drittes Kind?«
Die war noch nicht gewonnen, die musste selbst noch wichtig sein. Aufmunternd lächelte sie Lilly an.
Ich hätte nicht gewusst, was antworten. Lilly und ich waren so dankbar über Eustachius’ Gesundheit, wir wollten es nie wieder probieren. Obschon Lilly nun vielleicht besser ja sagte, schließlich verlangte der Führer arischen Nachwuchs? Meine Frau errötete, lehnte sich nach vorn und flüsterte der Ärztin etwas ins Ohr.
Wir Männer bemühten uns wegzuhören. Ohne Erfolg. Dass sie 40 Jahre alt sei. Dass sie keine Regel mehr habe.
Ach, sagte die Ärztin, das füge sich günstig. Für Lilly. So könne man sich die Sterilisation sparen. »Ich möchte einen gynäkologischen Abgleich. Gehen Sie zu Ihrem Arzt und schicken Sie uns die entsprechende Bestätigung.«
Meine Mutter gab einen Wink in ihr Vorzimmer, fünf Minuten später brachte man Schreibpapier, einen Federhalter und zwei in Folie geschlagene, mittelgroße Mohnkuchen.
»Gestern gebacken, bitte lassen Sie sie noch 24 Stunden ziehen!«
Klara setzte den Vertrag auf: Mohnkuchen und Brötchen jeden Samstag, Breslau und Plagwitz, Lieferung mit dem kleinen Wagen. Emil wurde eingetragen als Sitzschütter, tätig in Werkstatt M der Bäckerei. Der Wert der gelieferten Brötchen sollte dem Lohn des Backlehrlings Emil G. entsprechen.
Welche Logik. Eine gängige Liefervereinbarung, fast. Mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass die Bäckerei beides bezahlte, Lohn und Brot.
»Eustachius wird heilfroh sein, wenn er zu den Pimpfen darf«, sagte Klara zum Abschied. Wir standen um den Tisch, für Sekunden hing das »heilfroh« zwischen uns und den polierten Profilen der Ärzte. Das Wort hatte seltsam geklungen, als Klara es aussprach. Aber wie zutraulich sie lächelte unter ihrem grauen, straff gekämmten Haar, wie fraulich-deutsch sie aussah, zwei Söhne, Witwe, zugewandt.
Dr. Winsch nickte stramm, ich geleitete ihn und seine Kollegin hinaus.
Als der Adler durch unser Tor auf den Ring verschwand, pfiff ich den Hund zu mir. Die Kinder ließ ich, wo sie waren, ich hatte keine Kraft für sie, das Geschehen der letzten halben Stunde wollte mir nun, in der Mittagssonne, wie ein Spuk scheinen. Unsere Besucher hatten gekaut, gesprochen und gleichwohl unecht gewirkt – sie glichen den neuesten Gemälden, reingewaschen und geschrubbt, die Gesichtsmuskeln angespannt, damit die Kieferknochen hervortraten. Sie konnten Emil nicht von uns verlangen, nicht einfordern. Dafür gab es keine Handhabe. Gleichwohl hatten wir ein Angebot gemacht, sozusagen im Voraus. War das besonders dumm oder besonders schlau? Ich trat auf den Ring, Max trottete hechelnd neben mir.
Das Gutachten des Gynäkologen besorgten wir. Der Arzt kannte uns lange. Er bestätigte, was Lilly gesagt hatte, auch wenn ich wusste, dass es nicht stimmte.
Bei meiner Rückkehr in den Hof lachte Emil zufrieden. Eustachius lag zusammengerollt auf der Hundedecke, Tränenspuren auf den Wangen. Es gelang mir nicht, ihn aufzuwecken; erst als Lilly ihm ein feuchtes Tuch auf die glühende Stirn legte und auf ihn einsprach, schlug er zögernd die Augen auf.
Sein Blick kam von so weit her, dass ich meinen Sohn kaum wiedererkannte. Auch er schien mich nicht zu erkennen, klammerte sich an den Rock seiner Mutter und weinte. Sie schickte mich weg, sie wolle ihn beizeiten beruhigen. Als ich fortging, hörte ich ihn sagen: »Ich hasse ihn, ich hasse ihn«, und wusste nicht, wen er meinte, Emil oder mich.

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Hannes erinnert sich (1) https://der-siebte-sprung.de/hannes-erinnert-sich-1/?pk_campaign=feed&pk_kwd=hannes-erinnert-sich-1 Thu, 02 Oct 2014 07:55:15 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=1037 ]]>

Adler trumpf Junior Blau“ von de:User:Stahlkocher – photo taken by de:User:Stahlkocher. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons.

Für ihn, den Kranken, gab es einen neuen Arzt in Breslau, Dr. Winsch. Er sagte, Emils linke Gehirnhälfte sei defizitär, der Klumpfuß müsse als Symptom einer größeren Schwäche des Erbgutes gelten. Diese Schwäche greife in Emil um sich. Die Behinderung werde zunehmen, Jahr um Jahr, was sage er, Monat um Monat: bis das Kind nicht einmal mehr humpeln können werde, nicht mehr artikulieren, nur sabbern, einkoten, schreien. Dr. Winsch hatte leise gesprochen, mit sachlichem Blick auf Emil. Unvermittelt wurde seine Stimme forscher, nein, froher: Man müsse untersuchen, wie das geschehe! Was als lebenswert gelte, was nicht. Ob wir ein weiteres Kind wollten? Dringend rate er ab, ja, meiner Frau empfehle er eine Sterilisation.
Ich sagte, wir hätten einen zweiten Sohn, blauäugig, blond, gesund, da sagte er: »Sehen Sie!«, als hätte er Recht gehabt.
Eine Zeit lebten wir sorglos. Emil, der sich immer warm anfühlte, Emil, unser kleiner Ofen, saß auf dem Teppich, die Katze auf dem Schoß. Auch sie mochte, was er ausstrahlte. Weniger als je zuvor wussten wir, wie ihm helfen, wir unternahmen nichts mehr, hielten ihn im Haus, hatten, wie sich später offenbarte, mehr Glück als Verstand. Mein Ältester spielte vor meinem Schreibtisch, ich saß und beantwortete Briefe. Blickte ich auf, ließ er Zinnsoldaten in einen Eimer fallen, betrachtete ein Tierbuch und versuchte, danach zu zeichnen. Emil. Sein Name erinnerte an »lieb«. Da saß der Liebe auf dem Teppich, hielt den Klumpfuß schief von sich gestreckt und lächelte still und geheimnisvoll wie ein Junges im Wald.
Ich spürte, dass ich ebenso zurücklächelte. Dabei konnten Erwachsene das gar nicht. Nur Emil hatte die Kraft, diesen Ausdruck in meinem Gesicht hervorzulocken. Bei einer Hirschkuh hatte ich einmal beobachtet, wie selbstvergessen ein Tier sein Junges anzusehen vermag. Ich fühlte mich berührt und in den Augenblick gelöst. Auch Max-der-Dritte schien um Emils besondere Fähigkeiten zu wissen, er folgte ihm überallhin, gegen Dackelart. Mit seinen krummen Beinen passte er zu unserem Kind, nebeneinander hertrippelnd legten beide auf gleiche Weise den Kopf schräg, als lachten sie beim Blick aufeinander über einen nur ihnen bekannten metaphysischen Witz.
Kinder wie ihn, sagte meine Mutter Klara, hatte es immer gegeben. Und schlimmere. Emil sei anhänglich, bemüht, still, wir sollten zufrieden sein. Und wirklich, er zeigte keinerlei Launen. Schrieb er einen Brief, klemmte er vor Konzentration die Zungenspitze zwischen die Zähne, runzelte die zarte Stirn mit Lillys fast durchsichtiger Haut. Schreiben liebte er, wenn es ihm auch schwerfiel; er notierte einzelne Sätze über Tiere und später über die SS. Die für mich bestimmten Briefe musste ich ihm vorlesen, das Blatt dann zurückgeben. Es berührte mich, wie das Kind kämpfte und dabei an mir hing.
Emil weckte eine weiche Seite meiner Männlichkeit, einen nachgiebigen Stolz. Männer wissen nicht, was Liebe ist, bis sie eine Tochter haben, behauptete Julius. Andere nickten, ich schwieg. Männer liebten nicht, bis sie ein besonders zu beschützendes Kind bekamen. Sein Geschlecht war unerheblich.

Für Eustachius galten andere Pläne. Er war der Stammhalter, lang und zäh schon als Neugeborener. Wir fragten uns, woher er das hatte. Perfekte Gelenke, die Glieder äußerst gerade. Und wie er die tiefblauen Augen aufschlug.
Hübsch. Und von weit her.
Vielleicht, weil Emil mich besetzt hielt, vielleicht, weil ich so stark wollte, dass aus Eustachius, dem Gesunden, etwas werde, weil ich mich bei ihm für ein gelingendes äußeres Leben verantwortlich fühlte, wurde ich streng.
Auch dabei dachten wir noch an Emil. Eustachius sollte ihn versorgen können, wenn Lilly und ich einmal nicht mehr waren.
Das bürdeten wir unserem Jüngsten auf.
Wir versuchten, ihn darauf vorzubereiten: Dein Bruder, er ist dein Bruder.
1935 oder 1936 kehrte die Angst zurück. Dr. Winsch, inzwischen Oberarzt am Krankenhaus Breslau-Nord, wollten wir nie mehr sehen – wir wurden einbestellt. Mutter kannte die Sprechstundenhilfe, griff zum Telefon. Das Wort »lebenswert« hörten wir nun regelmäßig, ein offizielles, hochwichtiges Wort. Emil trug Maßschuhe aus Prag, außen klobige Stiefel, innen perfekt angepasst. Er konnte sich selbst die Schleife über der langen Zunge binden, manchmal lachte er dazu, manchmal sah er traurig auf die Beine seines Bruders, rief ein »Stächel« oder »Stach«, flüsterte »kimm her ze mer«, und der Kleine rannte johlend vor ihm davon, berauscht von dem eigenen, leichten Sieg. Die Sohlen des Schuhs für den kranken Fuß waren anfangs 1,3 Zentimeter höher als links, dann 2,1 Zentimeter, schließlich 3,8. Julius und Feli bekamen ein drittes gesundes Kind.
Um Emil fürchteten wir. Die Angst um ihn und das Glück mit ihm steckten erneut wie Zapfen in uns.

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Zugfahren (2) https://der-siebte-sprung.de/zugfahren-2/?pk_campaign=feed&pk_kwd=zugfahren-2 Thu, 25 Sep 2014 07:41:45 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=1006 ]]> Der Bahnhof von Wrocław

Der Bahnhof von Wrocław

Lilly erinnert sich

Drechslers hatten uns ein Stück mit ihrem Holzvergaser mitgenommen, drei Kilo Holz ersetzten einen Liter Benzin, statt zu fallen, schienen
die Flocken auf der Stelle zu schweben, so gleichförmig, dass der Wagen ins Endlose rollte
dann torkelten sie zur Erde, Motorschaden, die letzten fünf sechs Kilometer waren wir gelaufen, die dicken, verschneiten Bäume, der
Puusch, minus 20 Grad, wer konnte das
erschleppen
hohe Tannen und Buchen, Untergehölz, Emil humpelte schrecklich trotz des Maßstiefels aus Prag, Sonderanfertigung aus der Zeit vor dem Krieg, auf der anderen Seite glich ein ebenso maßgefertigter weibisch hoher Schuh den Unterschied der Beinlängen aus
der Aufbruch war Emil, dem armen
Krawitschl, in die Schenkel gefahren, er konnte sie kaum mehr koordinieren, schalteten wir
die Taschenlampe an, wurde nichts besser, ringsum strahlten die Waldesstämme auf, unheimlich
nah und geduldig
ragten die Bäume nach oben, halbschlafend
unter ihrem Schnee. In mir ging das Haus, langsam verglühte in seinen Zimmern die Wärme, langsam verglühten dort wir, ich dachte, wie am kommenden Morgen Eisblumen über das Küchenfenster zögen
wie immer, sie würden über die Scheiben wachsen, das also bliebe, unser Haus ein Garten
aus Eis.
Weit nach Mitternacht hatten wir den Breslauer Hauptbahnhof erreicht, Türmchen und Zinnen, die einst märchenhaft zuckrige, nun tröstliche Burg. Ich kannte jede Ecke, hätte mich im Dunkeln zurechtgefunden; es war dunkel, statt des Bahnhofs fand ich ein schorfiges Gelände aus Gepäck und Mensch. Dicht an dicht zusammengeschoben, ineinander verkeilt: Koffer, Rucksäcke, Hand- und Kinderwagen, Radbehren, Säcke, Bündel und Decken. Daran gelehnt oder daran geschnallt Frauen, Kinder, Greise, Lahme und Kranke, beängstigend
still. SS
und Polizei patrouillierten. Die hohen Stadthäuser, Fassaden voller Erker und Gesimsen, lagen ebenfalls dunkel, keine Laterne brannte, die Stadt versuchte, sich zu verstecken, nicht dazu sein, heimlich von ihrem Erdboden zu kriechen, viele Wohnungen standen wohl bereits leer, in the dead
of the night, hörte ich später, ein Leben später, just tell us
how did you leave?
how did it break your heart?
die Amis waren simple and straightforward, „tell us“, die Amis wussten Bescheid und waren ahnungslos, Mai einsneunvierfünf.
Lilly, das Kind, hatte den strahlend weißen Zuckerbahnhof geliebt, eine mittelalterliche Wunderburg, Fialen, Flaggen, Fenster, der Eingang von zwei orientalisch anmutenden Uhrtürmen bewacht. Glitzernd und immens öffnete sich hinter den schwingenden Türen die Prunkhalle, goldenes Laub berankte ihre Wände, die Luft, die man atmete, schmeckte nach
Dampf, Schmieröl und Welt
nach Blumen aus den Kiosken und Zuckerwatte. Schlanke, aus den Mauern lehnende Frauengestalten trugen Kerzenlampen, Lüster schwangen von den Decken, durch das teure Opakglas im Dach der zweischiffigen Wandelhalle schienen Sonne, Mond und
unwandelbare Sterne
auf den Express Breslau-Berlin, Breslau-Lemberg, Breslau-Moskau, Zeitungsverkäufer schrien Schlagzeilen aus aller Welt, hinter ihnen ragten die Gleise aus dem Bahnhof, den allein schon man in seiner Höhe und Weite nicht begreifen konnte, in die versprochene, unausdenkliche Ferne.
Das alles war weg.
In der kalten Halle stand zu Tausenden das neue Wesen Gepäck+Mensch. Die elektrische Notbeleuchtung an den Wänden brannte, wiederholt kreisten Taschenlampenstrahlen über uns, ein Gesicht leuchtete unter einer Mütze auf, fragend, ängstlich, stumpf, ein Mädchen
mit roter Mütze, ein Junge, kaum jünger als Eustachius, der schrie, eine hudernde Mutter, jedes
Bild ging so rasch unter, wie es erschien, wir waren nun
zur Gänze
Teile des Endes, wie Rinder, die Köpfe gesenkt
verharrten wir in unseren Atemnebeln, willfährig
noch immer führbar
grauschwarz. Der Kriegsbahnhof war untergegangen, verschwunden der Bahnhof der Messerminuten: Hannes fuhr an die Front, der Herzensminuten: Hannes kam zurück, die SS
hatte das gesamte Abfahrts- und Ankunftsareal linkerhand sowie das linke Seitenschiff gesperrt, vor uns lag
der AUFBRUCH
das riesige, steinerne, zugige AUFBRUCHSTHEATER
seine Bühne der Bahnsteig
leer, abgesperrt, die Herde Gepäck+Mensch reglos davor, als Requisite ein Zug, lang, dunkel, ersehnt
ungewiss.
Wir schafften es nicht in den ersten, zu plotschig, zu unerfahren, man durfte nicht denken: „Den einen Zug treffen Bomben, den anderen nicht“, so oder so säße man gefangen im Waggon, schon im Bahnhof lagen wir wie Fische in der Dose, es war unsinnig, Angst oder Gedanken zu haben, Spatzen hockten auf den Eisenträgern unter dem Glasdach und putzten ihr Gefieder, wie dumm sie waren, nun sah ich es, noch immer steckten sie den Kopf unter die Federn und glaubten, dann geschehe nichts. Wir hatten stillgehalten, noch die Federn geplustert, um größer zu wirken, Volk, Führer, Vaterland, alles ging gut, besser als erwartet, und als es anfing, schlechter zu gehen, schlossen wir die Türen, versteckten die Köpfe, schalteten es aus, das Gehirn, fuhren ihn runter, den Herzschlag, fürchteten uns möglichst so, dass wir es nicht merkten, Emil
klammerte sich an mich, flüsternd
besprach Lilly sich mit Eustachius, ich sehe uns da am Boden sitzen, das dämmrige Licht selbst Tags, die Versuche, sich zu wärmen, Mittags gab es Kaffee, eine echte Plärre, immerhin heiß, doch wärmte die Hände, ich schlürfte, kauerte mich zusammen, die SS
marschierte auf und ab, unsere
eigenen Männer und Söhne bewachten uns, sie waren bereit, uns zu schlagen, schlugen längst, wenn einer nicht gehorchte, seltsam, dachte ich, dieser
Krieg wächst
und wächst, alle Schatten
an den Wänden zuckten auf, ich wickelte mir das eine Ende meines Schals ums Handgelenk, knotete das andere um Emils Hals, zog ihn eng an mich heran, sehr eng, er schrie und gurgelte, Eustachius‘ Idee, wir hatten Emil nicht eingeweiht, man zuckte zurück vor dem jungen, offensichtlich fassungslosen Mann, es schuf uns nicht viel Platz, doch half, und Eustachius, hochgewachsen, brutal, Eustachius, die Klinge, drängte für uns voran. Koffer Säcke Taschen Deckenbündel Menschen wurden
gehievt, SS
schrie prügelte pfiff
schob den Riegel vor, der Waggon dämmrig, stickig, alle Sitze herausgerissen, die Fenster vernagelt, es fehlte das Glas, durch die Sicht- und Atemschlitze pfiff der Wind, endlich, wir fuhren, standen prompt wieder, Tür auf, Gepäck+Mensch kam nach, man quetschte, prügelte, verriegelte, wir hörten den Pfiff der Lok, spürten die Bewegungen Eisen
auf Eisen, fuhren, es war dunkel, draußen und zwischen uns, zwischen uns kroch die Dunkelheit umher, suchte die Finger, die Koffer, die Knochen, die Gedanken, das Ich, schloss sich darum.
Einer Horde Affen gleich, stumm und geduckt, saßen wir im Käfig und lasen uns, kaum fiel etwas Licht durch Ritzen und Luken, die Läuse ab, sie übertrugen Flecktyphus, tödlich, wir fürchteten uns, lebten noch. Die Sonne stand weit über dem Horizont, über unseren Horizont ging sie längst, der Zug ruckelte, bremste, hielt
Türen auf, Luft und Licht strömten wie Schläge auf uns ein, Patrouille SS: „Was tut
der große Junge da?“ Sie
wollten Eustachius mitnehmen, obwohl er zu jung war, sogar Emil kontrollierten sie, er musste seinen Schuh ausziehen, mit vor Hoffnung glänzenden Augen sah er die Schwarzuniformierten an, als
sie fort waren, zitterte hinter ihnen die Luft, ich fand kein bekanntes Gesicht mehr unter
den Schals, wir waren alle
verändert, kannten uns nicht mehr, glichen einander nur stärker als zuvor
hatten ein Stück unserer Geschichte aus den Gesichtern verloren als machten die Gesichter
sich leer, schlauer als wir, leer für die Geschichte
die nun begann, die große Flächen brauchte, viel vom Menschen, von uns verbrauchte – für sich.
Emil neben mir, das Jingla, kroch in sich zurück. Die SS
hatte ihn verschmäht, er schwieg tagelang.


”Lilly erinnert sich” ist der zweite Beitrag der neuen Serie Wegstücke. Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. Der erste, den wir ihnen in drei Auszügen vorstellen wollen, steht unter dem Titel “Zugfahren”.

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Es spricht: Emil https://der-siebte-sprung.de/es-spricht-emil/?pk_campaign=feed&pk_kwd=es-spricht-emil Thu, 18 Sep 2014 07:33:06 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=964 ]]> Stammbaum_01_0007

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