Berlin – Sieben Sprünge vom Rand der Welt https://der-siebte-sprung.de Ulrike Draesner Mon, 24 Nov 2014 08:45:59 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4 63645751 Europa https://der-siebte-sprung.de/europa/?pk_campaign=feed&pk_kwd=europa Mon, 24 Nov 2014 08:44:06 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=1196 ]]> © Flickr.com/Dr. János Korom

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Die Uhr!
Mit einem Mal sah ich sie überall, diesen eckigen, gute hundert Jahre alten Uhrsäulen und Uhrtürmchen, sah sie vor Rathäusern, sah sie auf den Märkten, die ich ebenfalls überall fand – in Städten und Städtchen als Rynek, als Ring. Erinnerte mich an alte Photographien aus Berlin, Potsdamer Platz – die Uhr. Gewiss, von Ostmitteleuropa vor den Kriegen hatte ich vielfach gelesen und es bewundert: ein multikultureller Raum, sprachliche, ethnische und religiöse Vielschichtigkeit, niemals einfach, aber gelebt. Vor den Uhren spürte ich dieses zerstörte, aber nicht ganz verschwundene Europa, begriff körperlich-räumlich, was für Ideen und Möglichkeiten es für heute bereithält. Ein Schatz – jenseits des noch immer durch unsere Köpfe spukenden Ost-West-Denkens. Eine Lebenstradition, über Grenzen hinweg, an die wir anknüpfen könnten, um „europäische Identität“ zu füllen, die an ihrer eigenen Abstraktheit wie an ihrem Herkommen aus dem Kommerz leidet. In unserer Welt immer noch zunehmender Berufs-, Liebes- und Notmigrationen werden wir sie brauchen.

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Karl-Valentin-Gestell https://der-siebte-sprung.de/karl-valentin-gestell/?pk_campaign=feed&pk_kwd=karl-valentin-gestell https://der-siebte-sprung.de/karl-valentin-gestell/?pk_campaign=feed&pk_kwd=karl-valentin-gestell#respond Wed, 09 Apr 2014 10:40:44 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=447 ]]> Karl Valentin Gestell #7terSprung

Karl-Valentin-Gestell: Karl Valentin, mit bürgerlichem Namen Valentin Ludwig Frey, geboren 1882 in der Münchener Au, gestorben 1948 in Planegg (aus München ausgebombt), bayrischer Komiker. Benutzte Sprachwitz und „sein Gestell“, den mageren, lattenlangen Körper, um Sketche auf die Bühne zu bringen und herrlich stolpern zu lassen. Ich wuchs in Planegg auf; Valentin war meine erste „verkörperte“ Begegnung mit Literatur. Jeden Tag auf dem Schulweg kam ich zwei Mal an dem Haus vorbei, in dem er gelebt hatte; sein Enkel ging mit mir in die Klasse. Volkssänger, Filmer, Autor, Reisender. Mehr dazu findet sich in meinem Valentin-Essay in Heimliche Helden. Etwa mit Hilfe des Fotos, das Valentin 1936 im Berliner Olympiastadion zeigt. Leider dauerte die Reise mit der Bahn von München nach Berlin so lange, das er einen Tag nach dem Ende der Olympischen Spiele ankam. Da sitzt er im leeren Rund. Fort der Pomp, fort die Fahnen mit dem Hakenkreuz. Auch so kann man – sich entziehen.

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Essay (1) https://der-siebte-sprung.de/rendez-vous-7tersprung/?pk_campaign=feed&pk_kwd=rendez-vous-7tersprung Mon, 03 Mar 2014 08:30:40 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=288 ]]> 1. Rendez-vous

Sich umzudrehen ist gefährlich. Lots Frau erstarrt zur Salzsäule. Sich umzudrehen ist schön: Wer sich dreht, sieht mehr. Liebe Hoffnung Glück. Glückliche Räume. Wie wird etwas gerade, wie rund? Wie hängt man es auf: hält es fest, erinnert sich daran, stellt es dar?
Die Idee, einen Roman zum Thema Flucht und Vertreibung zu schreiben, jenen Weg, auf dem man sich ständig umdreht, ohne umdrehen zu können, einen Roman zu schreiben zu dem Familienthema, das meine Kindheit bestimmte, sprach ich an einem Nachmittag des Sommers 2005 das erste Mal aus. Mein damaliger Lektor und ich gingen die Immanuelkirchstraße in Berlin hinauf. Holpriger Gehweg, Birnbäume, schimmernde Straßensteine. Das „Projekt“ verunsicherte mich: war es eine gute Idee, so biographisch zu werden?
Ulrike Draesner auf der Liebighöhe Bild Horst Konietzny

Meine Romane waren in der dritten Person geschrieben, weiter entfernt von mir. Das „ich“ erschien mir als schwierigste aller Perspektiven. Wie „ich“, ohne ich zu sein, doch mit allem, was ein Ich braucht, um lebendig zu werden?

 

Ich hatte schon angefangen, mich mit diesem Anfang selbst überrascht: mitten im Schreiben eines anderen Romans die Stimme „meiner“ Großmutter gehört und notiert. Die Stimme sprach davon, dass sie sich an den letzten Tag zuhause nicht erinnern konnte; es handelte sich um den 18. Januar 1945 in der kleinen schlesischen Stadt Oels, gut dreißig Kilometer nordöstlich von Breslau. Ich kannte das Städtchen, 1984 hatte ich es mit meinem Vater besucht. Was „meine Großmutter“ nun sagte, hätte sie „im Leben“ nie gesagt. Die Figur, Lilly, rutschte und sprach in Brechungen, ein Balken ragte durch ihr Gedächtnis. Der letzte Tag zuhause: verschwunden. Und sie selbst: aus sich verschoben. Verzogen.

 

Temporary Registration Maria Draesner Oels Niederbayern #7terSprung

Die Stimme meiner Großmutter-Nichtgroßmutter kam von der Nicht-Erinnerung nicht los. 18 Seiten stürzten aus mir heraus. Dann hörte ich auf.

 

Selbstüberraschungen: die wertvollsten, schlimmsten, seltsamsten Momente des Schreibens? Das Thema lag vor mir, ein kaltes Kapitel meiner eigenen Biographie, undurchdrungen. Meine Vaterfamilie, Lebensfragen bis heute hingen daran (warum verstand mein Vater von manchem so wenig, warum war er deprimiert, schweigsam, eigenbrötlerisch, wer waren seine Dämonen, welche Rolle spielte ich bei seinem Kampf mit ihnen?). Was hatte ich damit zu tun?

Rasch zog ich mich zurück.

 

Während meiner Kindheit hatte ich die Jahre 1933-45 als tief versunkene Vergangenheit wahrgenommen, „der Krieg“ ein Krieg der Großeltern. Schon meine Eltern hatten ihn „nur“ als Kinder erlebt. Erst als ich 30 wurde, dämmerte mir allmählich, wie stark das Bild und die Deformationen einer versehrten Gesellschaft mein Aufwachsen bestimmt hatten. Es war zu erwarten, dass sie untergründig weiterwirkten. Dachte ich an das München der 60er Jahre, sah ich Straßenbahnen mit Sitzplätzen für Kriegsversehrte, verstümmelte alte Männer, die Stöcke schwangen, humpelten, schwiegen. Männer mit Eisenhänden machten mir besondere Angst, ihre Versehrung trat so deutlich zu Tage.

Auch bei anderen, die es nicht körperlich zeigten, war sie zu spüren.
Davon erzählen?
Doch wie?

Ich verschob die Entscheidung, obwohl ich inzwischen wusste, welche Fragen mich umtrieben: Wie wirken Traumatisierungen, wenn Kinder sie erleiden?

Wie geben Menschen weiter, was sie nicht erzählen, nicht aussprechen, oft genug nicht einmal willentlich erinnern können?

(Fortsetzung am 4. März 2014)

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