Sabine Jainski: Von Schlesien nach Myanmar und zurück nach Berlin

Ein Sprung für Ulrike Draesners „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“

 

Die „Sieben Sprünge“ haben mich sehr beeindruckt, weil sie auf ganz verschiedene Weise Gefühlslandschaften abbilden, für die es bis heute keine Sprache gibt, und damit das Verzogen-Sein von drei Generationen in Worte fassen. Der Roman hat mich dazu gebracht, den Erinnerungen meiner Familie nachzuspüren und sogar eine Familienaufstellung ins Auge zu fassen, um mich meinen blinden Flecken zu stellen und die „Flaschenpost“ aus der Vergangenheit zu lesen. Zumal meine geliebte Oma, mit der ich vorletztes Jahr noch einen Film drehen konnte, gerade mit 100 Jahren verstorben ist.

In unserer Familie war das Schweigegebot so ausgeprägt, dass ich nie nachgefragt habe. Nachdem es meine Oma einmal in „dieses beispiellose Kuhdorf“ am Rhein verschlagen hatte, wo Regierung und Ministerien für Arbeitsplätze sorgten, „weg von meinem schönen Berlin, meinem schönen München“, galt alles, was jenseits des Eisernen Vorhangs lag, als endgültig verloren und verlassen.

Für mich: eine Kindheitslandschaft, die Kindheit meiner Oma, die Ferien, die sie in Schlesien in der Mühle ihrer Großmutter verlebt hatte, mit gebratenen Täubchen und den „Buxen vom Hinterdorf“, die sie viel lieber mochte als die geschniegelten Bürgertöchter, die ihr zum Spielen angetragen wurden, mit dem schönen, schwulen Onkel, der in der Kirche immer in einem Extra-Raum an der Seite stand. Eine Landschaft wie aus dem Kinderbuch, tröstlich und wohlbehalten für immer in einer Luftblase der Erinnerung aufbewahrt. Nie kam mir in den Sinn, daß dieses Land wirklich existieren könnte, genauso wenig wie das lebendige Vorkriegs-Berlin mit den großen, herrlichen Bällen, wo mehrere Orchester zum Tanz durch die Nacht aufspielten, alle Ballkleider natürlich selbstgenäht, denn Oma hatte die Modeschule besucht, eine merkwürdige Einrichtung eines jüdischen Konvertiten mit Nazi-Protektion, „da haben wir eigentlich nicht richtig was gelernt, der war eigentlich eher Philosoph und hat den Namen der Deutschen Modeschule geklaut, aber die Nonnen haben gesagt, schickt eure Kinder dahin“. Immerhin, der Kindergarten steht noch, einzige Erinnerung an die jüdischen Nachbarn, die Laubhütten im Hof bauten, und die Freundinnen, die alle verschwunden sind, nach Amerika, oder vermutlich deportiert, „nie wieder was gehört“. Dennoch hat mich dieses Berlin immer angezogen, und so bin ich gleich mit 20 dorthin, aber eher wegen der Geschichten meines Onkels, des langhaarigen Studenten mit VW-Bus und ausgeleierter Strickjacke, von 68er-Revolte, Freiheit, Hausbesetzern, auf diese Insel mit ihren Geisterbahnhöfen zwischen den Systemen, ohne festen Ort und außerhalb der Zeit. Später, auf Spaziergängen mit meiner Oma, erstanden die zerbombten Gebäude und die Geschichten ihrer Bewohner erneut aus dem glatten Pflaster oder den 70er-Jahre-Betonbauten, die an ihre Stelle getreten waren. Manches hatte sich auch gar nicht verändert: Alt-Moabit sieht fast noch so aus wie auf dem Bild, das meine frisch verheiratete Uroma 1913 von ihrem Balkon aus malte.

Erst nach Omas Tod – und erst angeregt durch Ulrike und ihren Roman und die Diskussionen darüber – habe ich begonnen, die Namen meiner Familie in die Suchmaschine einzugeben. Schon nach zwei, drei Klicks stieß ich auf die Familie meiner Uroma, der schönen Malerin, die ich als Kind einmal besucht hatte, aber sonst nur von Fotos kannte. Ich fand heraus, daß sie im heutigen Myanmar geboren wurde, in einem Stadtteil von Yangon, wo ihr Vater als Ingenieur bei einer britischen Firma arbeitete (bislang war mir nur das Currygericht meiner Oma als Erbteil dieser Zeit bekannt). Dieser Vater liebte die Fliegerei – und begann um die Jahrhundertwende, Flugzeuge und Motoren zu entwickeln und schließlich auch zu bauen. Sein Sohn, mein Urgroßonkel, machte den Flugschein und experimentierte mit eigenen Fliegern, damals noch ein waghalsiges Unternehmen, bei dem meine Uroma nur zu gern mitgemacht hätte; „aber ihr Vater hat es nicht erlaubt“, sagte meine Oma dann immer, die persönlich eher für Motorräder schwärmte, am besten Harleys, und für die Punks am Bahnhofsplatz. Sie zeigte mir das Foto, auf dem meine Uroma mit ihrem Bruder in einer dieser wackligen Flugkonstruktionen sitzt – und plötzlich fand ich dieses Foto wieder in einem Buch über meine Familie, die „Flugpioniere“ aus Erfurt, mit Bergen von Fotos, Briefen und Reklametafeln. Aber Erfurt, das lag ja auch hinter dem Eisernen Vorhang, es war verloren, vergessen, kein Kontakt, am besten, man sprach nicht mehr darüber – und so tat auch ich. Immerhin machte ich mit 18 den Motorradführerschein, aber malen lernte ich nie, und Erfurt besuchte ich nur einmal mit der Schulklasse im März, alles grau und diesig bis auf die roten Parteitafeln, ein riesiges, modernes Hotel, in dem mich abends ein junges Pärchen aus Ostberlin ansprach und erzählte, in der DDR sei doch alles viel besser, vor allem der Umgang mit schwierigen Jugendlichen, und ob ich nicht mit ihnen eine Flasche ungarischen Wein trinken wolle.

Das ist erst der Anfang, und ich bin gespannt, wo mich meine Recherche noch hinführen wird – vielleicht folge ich Ulrikes Beispiel und fahre nach Erfurt und nach Schlesien, um einmal die reale Landschaft hinter den Luftblasen kennenzulernen. Solche Blasen haben etwas sehr Tröstliches, wie Schneekugeln und Flaschenschiffe – gut eingekapselter Schmerz. Was passiert, wenn man die Blase öffnet, kann man nie wissen, deshalb wirken die Schweigegebote auch so lange weiter. Ich freue mich, dass Ulrike damit so ermutigend angefangen hat!

(c) Sabine Jainski, 2014

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In der Rubrik „Selbst-Erzählen“ veröffentlichen wir Texte von Lesern

 

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