Kleines Vaterland, małą ojczyznę

Matthiasplatz in Wroclaw #7terSprung Ulrike Draesner

kleines Vaterland, małą ojczyznę: Halina, 1945 aus Lemberg nach Wrocław vertreiben, viele Jahre später:

„Heim-ge-sucht, hatte Daidanek mir beigebracht.

Nun konnte ich sie sehen, Wrocławs Mildigkeit, von der Tatuś einst gesprochen hatte. Sie lag auf den Katzenköpfen nach einem Regen, umfloss die Büsche, die wieder blühten am Matthiasplatz, breitete sich über Hausdächer halb im Schatten, halb im Sonnen­schein. Die Vögel sangen auch ohne Plan, sie profitierten vom Sozialismus: Löcher in Hauswänden, zahlreiche Brutnischen, Samenflug. Noch vor der Morgendämmerung zog ihr Gesang unsichtbare Risse in die Reste der Nacht, mein Herz schlug im Dreischritt, Tomasz-Boris-ich, Adam-Heinrich-ich, Heinrich-Boris-ich. Dreischritt, um nicht zum Zweitakter zu werden, um nicht zu pochen zwischen früher und jetzt, Fremde und Heimat, gut und schlecht, um nicht zu pochen: Flüchtling, Flüchtling, Idiot.

Gleichwohl hatten Tomasz, Boris und ich ein Zuhause, »kleines Vaterland«, małą ojczyznę, ein postdeutsches Schwimmbad und eine postdeutsche Oder. Über Mutter hing eine Gloriole goldener Lembergerinnerungen: Je älter sie wurde, umso überzeugender machte sie sich neuerlich zu einer einzigen Person. Sie löschte, dass man sie durchgeschnitten und ihr Leben geteilt hatte, indem sie kurzerhand den zweiten Teil, ihre Gegenwart, vergaß. Ab und an, wenn sie mit Boris spielte, blitzte ihr unvermutet die alte Munterkeit aus den Augen. An anderen Tagen saß sie da und streichel­te stundenlang ihren Lemberger Flakon.“