Hannes erinnert sich (2)

alte schlesische Mohnmühle © Ulrike Draesner

alte schlesische Mohnmühle
© Ulrike Draesner

»Ein schweigsamer Bäcker ist ein braver Bäcker«, sagte Mutter enthusiastisch, »er spuckt nicht in den Teig!«
»Hmmm«, machte Dr. Winsch, seine Begleiterin verzog keine Miene.
Mutter fuhr fort: man brauche Emil für Extraleistungen. Emil werde gern backen für andere Kinder, Kränkere, das wäre eine volksmysterische Geste, sie denke an den Ur-Jäger, den Ur-Fischer, den Ur-Bauern, uralte Rhythmen, der Wandel von Boden, Wasser und Licht, ein geistig-züchterisches Handeln aus ungestillt titanischem Geist. Selbstverständlich ein Geschenk, ein Gemeinschaftsgut, urgermanisch auch dieses: Blut zu Blut, Bein zu Bein, Kuchen zu Kuchen.
Klara Grolmann, exakt gescheitelt, Haarknoten im Nacken, die Schläue der Augen hinter der Nickelbrille verborgen. Die Untersuchungen am Gehirn der Patienten, sagte sie sachlich, seien anstrengend für das Personal, gern stifte die Familie etwas, einmal pro Woche ein Brötchen für jeden Patienten, für das Personal zwei, sagte sie knapp und klar.
Er denke an zwei Adressen, antwortete Dr. Winsch, man habe die Anstrengungen verdoppelt, die Forschung blühe.
»Selbstverständlich«, antwortete Mutter, »zwei Kinder hier, zwei Häuser versorgt«, und die hakennasige Ärztin, die aufmerksam gefolgt war, ergänzte: »Ihr Mohnkuchen soll hervorragend sein«, drehte sich zu Lilly und fragte im selben Atemzug: »Möchten Sie ein drittes Kind?«
Die war noch nicht gewonnen, die musste selbst noch wichtig sein. Aufmunternd lächelte sie Lilly an.
Ich hätte nicht gewusst, was antworten. Lilly und ich waren so dankbar über Eustachius’ Gesundheit, wir wollten es nie wieder probieren. Obschon Lilly nun vielleicht besser ja sagte, schließlich verlangte der Führer arischen Nachwuchs? Meine Frau errötete, lehnte sich nach vorn und flüsterte der Ärztin etwas ins Ohr.
Wir Männer bemühten uns wegzuhören. Ohne Erfolg. Dass sie 40 Jahre alt sei. Dass sie keine Regel mehr habe.
Ach, sagte die Ärztin, das füge sich günstig. Für Lilly. So könne man sich die Sterilisation sparen. »Ich möchte einen gynäkologischen Abgleich. Gehen Sie zu Ihrem Arzt und schicken Sie uns die entsprechende Bestätigung.«
Meine Mutter gab einen Wink in ihr Vorzimmer, fünf Minuten später brachte man Schreibpapier, einen Federhalter und zwei in Folie geschlagene, mittelgroße Mohnkuchen.
»Gestern gebacken, bitte lassen Sie sie noch 24 Stunden ziehen!«
Klara setzte den Vertrag auf: Mohnkuchen und Brötchen jeden Samstag, Breslau und Plagwitz, Lieferung mit dem kleinen Wagen. Emil wurde eingetragen als Sitzschütter, tätig in Werkstatt M der Bäckerei. Der Wert der gelieferten Brötchen sollte dem Lohn des Backlehrlings Emil G. entsprechen.
Welche Logik. Eine gängige Liefervereinbarung, fast. Mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass die Bäckerei beides bezahlte, Lohn und Brot.
»Eustachius wird heilfroh sein, wenn er zu den Pimpfen darf«, sagte Klara zum Abschied. Wir standen um den Tisch, für Sekunden hing das »heilfroh« zwischen uns und den polierten Profilen der Ärzte. Das Wort hatte seltsam geklungen, als Klara es aussprach. Aber wie zutraulich sie lächelte unter ihrem grauen, straff gekämmten Haar, wie fraulich-deutsch sie aussah, zwei Söhne, Witwe, zugewandt.
Dr. Winsch nickte stramm, ich geleitete ihn und seine Kollegin hinaus.
Als der Adler durch unser Tor auf den Ring verschwand, pfiff ich den Hund zu mir. Die Kinder ließ ich, wo sie waren, ich hatte keine Kraft für sie, das Geschehen der letzten halben Stunde wollte mir nun, in der Mittagssonne, wie ein Spuk scheinen. Unsere Besucher hatten gekaut, gesprochen und gleichwohl unecht gewirkt – sie glichen den neuesten Gemälden, reingewaschen und geschrubbt, die Gesichtsmuskeln angespannt, damit die Kieferknochen hervortraten. Sie konnten Emil nicht von uns verlangen, nicht einfordern. Dafür gab es keine Handhabe. Gleichwohl hatten wir ein Angebot gemacht, sozusagen im Voraus. War das besonders dumm oder besonders schlau? Ich trat auf den Ring, Max trottete hechelnd neben mir.
Das Gutachten des Gynäkologen besorgten wir. Der Arzt kannte uns lange. Er bestätigte, was Lilly gesagt hatte, auch wenn ich wusste, dass es nicht stimmte.
Bei meiner Rückkehr in den Hof lachte Emil zufrieden. Eustachius lag zusammengerollt auf der Hundedecke, Tränenspuren auf den Wangen. Es gelang mir nicht, ihn aufzuwecken; erst als Lilly ihm ein feuchtes Tuch auf die glühende Stirn legte und auf ihn einsprach, schlug er zögernd die Augen auf.
Sein Blick kam von so weit her, dass ich meinen Sohn kaum wiedererkannte. Auch er schien mich nicht zu erkennen, klammerte sich an den Rock seiner Mutter und weinte. Sie schickte mich weg, sie wolle ihn beizeiten beruhigen. Als ich fortging, hörte ich ihn sagen: »Ich hasse ihn, ich hasse ihn«, und wusste nicht, wen er meinte, Emil oder mich.