Essen (5)

© Ulrike Draesner

© Ulrike Draesner

Boris erzählt, wie Boris und Simone versuchen, sich miteinander zu unterhalten
Gekreuzte Holzspeere, ein wagenradgroßer Teller mit Fladen zum Selberrollen. Ich war stolz darauf, gleich zu Anfang festgelegt zu haben, dass ich einlud. Sie sagte »nice of you«, als wäre sie noch im Institut, und bestellte einen Aperol.
Ich hatte ihr nach dem Vortrag geschrieben, eine kleine Ewigkeit an den paar Zeilen gefeilt, nicht zu nah, zu aufdringlich, zu distanziert, wie machte ich ihr deutlich, dass es mir um sie ging, nicht um ihren Vater und nicht um die Affenforschung, nein, dass sie, Simone, es war, die mich lockte, die mir gefiel. Am Ende schrieb ich das so direkt und sagte in dem Versuch, selbstironisch zu sein, als Pole dürfe ich, nein, müsse ich mit der Tür ins Haus fallen, Schwerenöter, Handkuss, mindestens.
Sie antwortete sofort. Empört! Dass ich ihr meine Nationalität verschwiegen hätte (sie hatte nicht gefragt). Dass sie mir, hätte sie es gewusst, den Auftrag nicht erteilt hätte (eben). Dass ich es ihrem Vater hätte sagen müssen (der hatte es nach drei Minuten erraten). Als ich das tippte, war klar, dass sie sich nun entweder nie mehr meldete oder dass ich eine Chance bekäme.
Der Betreff ihrer nächsten Mail lautete »Affenbesichtigung«. Sollte ich, als Affe, besichtigt werden? Ich beschloss, das Wort als Zeichen von Humor zu nehmen. Sie lud mich in ihr Institut ein, ich sagte zu.
Als ich eine Woche später (täglich Sport, weder Wein noch Bier) zum vereinbarten Termin dort erschien, hieß es, die Forscherin befinde sich in einer Konferenz. Die Empfangsdame rief eine Studentin an, die mich durch uninteressante, holzgetäfelte Büroflure führte, um mir am Ende zwei ebenso uninteressante Affenspielräume zu zeigen. Ich sagte, ich müsse mindestens 20 Minuten bleiben um herauszufinden, ob meine Tierhaarallergie ausbreche. Wir warteten eine halbe Stunde, ich hoffte, meine Gastgeberin käme noch, sie kam nicht.
Am Abend desselben Tages schickte sie eine entschuldigende SMS. Wir mailten weiter (ich: Warum lassen Sie Affen in Gefangenschaft leben? Sie: Weil ihre Habitate zunehmend von uns Menschen zerstört werden, weil in ihrer Heimat Bürgerkrieg herrscht. Ich: Aber nicht nur), verabredeten uns, stritten (Sie: Stimmt. Sie werden auch gegessen. Ich: Lenken Sie nicht ab. Sie halten sie in Gefangenschaft, weil Sie forschen wollen. Sie: Weil die Menschenartigen den Planeten beherrschen. Zufrieden jetzt? Ich: Ja. Aber müssen Sie mitmachen? Sie: Wollen Sie die Tiere einfach auswildern?),
sie: »Sie Romantiker!«
Sie, entspannt vor mir. In all ihrer Schönheit und Brillanz. Eng geschnittene, blaue Jacke, blaue dreiviertellange Stoffhosen, schwarze Stiefel.
Wir hockten mit unbequem angewinkelten Beinen auf Bastmatten. Grolmann war drei oder vier Zentimeter größer als ich. Wenigstens das fiel im Sitzen nicht auf.
»Ich bin so blöd«, sagte die Forscherin. Das Grün ihrer Iris schien aus dem Auge hinaus als zarter Strich auf Unter- und Oberlid gewandert zu sein. Kein Lidschatten, kein Kajal, sichtbar nur bei bestimmtem Lichteinfall, jetzt.
Sie biss in ein Stück Fladen und schob kauend nach: »Sie, mein Lieber, aber auch.«
Mein Lieber!
Gut, ich wusste, wie es gemeint war. Das wusste jeder Idiot. Dennoch: Sie hätte es nicht sagen müssen. Ich brachte ein vergleichsweise ruhiges »Warum?« heraus, schaute sie an, sprich: starrte ihr in die moosgrünen Augen, und sagte: »Ihres Vaters wegen natürlich. Ich schreibe Ihnen einen harmlosen Abschlussbericht, befreunde mich mit ihm, gehe ihm auf den Leim, durchschaue ihn nicht im Geringsten.«
»Das scheint Sie nicht zu stören?«
Es war Mitte März, kalt und regnerisch. Umso heißer kam mir die Luft in diesem afrikanischen Restaurant vor. Am Nachbartisch wurde gegart, Erlebniskochen, oder wie das hieß; rundum roch es nach exotischen Gewürzen und Fleisch; im Hintergrund lief Cosmopop.
»Im Gegenteil«, sagte ich und nippte an meiner Apfelschorle. Sah wenigstens farblich aus wie Wein. Bei gutem Willen. Viel gutem Willen.
»Es zieht mich an. Wie Sie!«
Ich wusste nicht, ob sie wusste, dass »wie du« oder »wie Sie« nicht nur über Arten hinweg, sondern auch zwischen Menschen als Zauberformeln wirkten. Nun ja, das musste sie wissen.
Sie holte eine kleine silberne Brille aus ihrer Handtasche, um das Menü zu lesen. Der schlaksige Kellner, vermutlich der Sohn der Familie, der sich hier sein Taschengeld aufbesserte, hatte uns nur eine Karte gebracht. Wir beugten uns darüber.
Während wir auf das Essen warteten, fragte ich nach Bonobos. Sicheres Terrain! Es handelte von Affen. Dachte ich.
Und sie? Erzählte von Männerhoden. Die seien im Vergleich zu Schimpansenhoden relativ klein, was darauf hinweise, dass stabile heterosexuelle Beziehungen die Menschengesellschaft seit Jahrtausenden dominierten. Zunächst wusste ich nicht, was ich mit dieser Information anfangen sollte. Wollte sie sich über mich lustig machen oder auf seltsame Weise Rollenmodelle diskutieren? Nach einer Weile begriff ich, dass Anthro-Biologen von Körpern ausgingen und über Körper nachdachten, und dass Simone davon sprach, weil es sie beschäftigte.
Sie sagte, die Homo-sapiens-Frauen hätten Treue gegen Schutz und männliches Engagement getauscht, bei Biologen heiße das »kooperative Brutpflege«. Als ich fragte, ob sie glaube, dass in absehbarer Zeit die Hoden menschlicher Männer größer würden, lachte sie. Als ich ihr sagte, dass ich ihren Gedanken, unsere Anatomie erzähle eine Geschichte von Liebe und Bindung, wunderbar finde, denn ich fand ihn wunderbar und bemerkenswert, lächelte sie, und der Junge in Hängejeans und T-Shirt trug die Hauptspeisenfladen auf, groß wie Wagenräder.

Durch den Roman ziehen sich zahlreiche Mikrogeschichten und Reise- wie Lesewege. ”Boris erzählt, wie Boris und Simone versuchen, sich miteinander zu unterhalten” ist der letzte von fünf Beiträgen, die wir Ihnen unter dem Titel “Essen” vorstellen möchten.