Es spricht: Lilly

Stammbaum_01_0006
SS und Polizei patrouillierten. Die hohen Stadthäuser, Fassaden voller Erker und Gesimse, lagen ebenfalls dunkel, keine Laterne brannte, die Stadt versuchte, sich zu verstecken, nicht da zu sein, heimlich von ihrem Erdboden zu kriechen, viele Wohnungen standen wohl bereits leer, in the dead
of the night, hörte ich später, ein Leben später, just tell us
how did you leave?
how did it break your heart?
die Amis waren simple and straightforward, »tell us«, die Amis wussten Bescheid und waren ahnungslos, Mai einsneunvierfünf.
Lilly, das Kind, hatte den strahlend weißen Zuckerbahnhof geliebt, eine mittelalterliche Wunderburg, Fialen, Flaggen, Fenster, der Eingang von zwei orientalisch anmutenden Uhrtürmen bewacht. Glitzernd und immens öffnete sich hinter den Eichenportalen die Prunkhalle, goldenes Laub berankte ihre Wände, die Luft, die man atmete, schmeckte nach
Dampf, Schmieröl und Welt
nach Blumen aus den Kiosken und Zuckerwatte. Schlanke, aus den Mauern lehnende Frauengestalten trugen Kerzenlampen, Lüster schwangen von den Decken, durch das teure Opakglas im Dach der zweischiffigen Wandelhalle schienen Sonne, Mond und
unwandelbare Sterne
auf den Express Breslau-Berlin, Breslau-Lemberg, Breslau-Moskau, Zeitungsverkäufer schrien Schlagzeilen aus allen Kontinenten, hinter ihnen ragten die Gleise aus dem Bahnhof, den man allein schon in seiner Höhe und Weite nicht begreifen konnte, in die versprochene, unausdenkliche Ferne.
Das alles war vernichtet.
In der kalten Halle stand zu Tausenden das neue Wesen Gepäck+Mensch. Die elektrische Notbeleuchtung an den Wänden brannte, wiederholt kreisten Taschenlampenstrahlen über uns, ein Gesicht leuchtete unter einer Mütze auf, fragend, ängstlich, stumpf, ein Mädchen
mit roter Mütze, ein Junge, kaum jünger als Eustachius, der schrie, eine hudernde Mutter, jedes
Bild ging so rasch unter, wie es erschien, wir waren nun
zur Gänze
Teile des Endes, wie Rinder, die Köpfe gesenkt
verharrten wir in unseren Atemnebeln, willfährig
noch immer führbar
grauschwarz. Der Kriegsbahnhof war untergegangen, verschwunden der Bahnhof der Messerminuten: Hannes fuhr an die Front, der Herzensminuten: Hannes kam zurück, die SS
hatte das gesamte Abfahrts- und Ankunftsareal linkerhand sowie das linke Seitenschiff gesperrt, vor uns lag
der Aufbruch
das riesige, steinerne, zugige Aufbruchstheater
seine Bühne der Bahnsteig
leer, abgesperrt, die Herde Gepäck+Mensch reglos davor, als Requisite ein Zug, lang, dunkel, ersehnt
ungewiss.
Wir schafften es nicht in den ersten, zu plotschig, zu unerfahren, man durfte nicht denken: »Den einen Zug treffen Bomben, den anderen nicht«, so oder so säße man gefangen im Waggon, schon im Bahnhof lagen wir wie Fische in der Dose, es war unsinnig, Angst oder Gedanken zu haben, Spatzen hockten auf den Eisenträgern unter dem Glasdach und putzten ihr Gefieder, wie dumm sie waren, nun sah ich es, sie steckten den Kopf unter die Federn und glaubten, dann geschehe nichts. Wir hatten stillgehalten, noch die Federn geplustert, um größer zu wirken, Volk, Führer, Vaterland, alles ging gut, besser als erwartet, und als es anfing, schlechter zu gehen, schlossen wir die Türen, versteckten die Köpfe, schalteten es aus, das Gehirn, fuhren ihn runter, den Herzschlag, fürchteten uns möglichst so, dass wir es nicht merkten, Emil
klammerte sich an mich, flüsternd
besprach Lilly sich mit Eustachius, ich sehe uns da am Boden sitzen, das dämmrige Licht selbst tags, die Versuche, sich zu wärmen, mittags gab es Kaffee, eine echte Plärre, immerhin heiß, wärmte die Hände, ich schlürfte, kauerte mich zusammen, die SS
marschierte auf und ab, unsere
eigenen Männer und Söhne bewachten uns, sie waren bereit, uns zu schlagen, schlugen längst, wenn einer nicht gehorchte, seltsam, dachte ich, dieser
Krieg wächst
und wächst, alle Schatten
an den Wänden zucken auf, ich
wickelte mir das eine Ende meines Schals ums Handgelenk, knotete das andere um Emils Hals, zog ihn eng an mich heran, sehr eng, er schrie und gurgelte, Eustachius’ Idee, wir hatten Emil nicht eingeweiht, man schreckte zurück vor dem jungen, offensichtlich fassungslosen Mann, es schuf uns nicht viel Platz, doch half, und Eustachius, hochgewachsen, brutal, Eustachius, die Klinge, drängte für uns voran.
Koffer Säcke Taschen Deckenbündel Menschen wurden gehievt, SS
schrie prügelte pfiff
schob den Riegel vor, der Waggon dämmrig, stickig, alle Sitze herausgerissen, die Fenster vernagelt, es fehlte das Glas, durch die Sicht- und Atemschlitze pfiff der Wind, endlich, wir fuhren, standen prompt wieder, Tür auf, Gepäck+Mensch kam nach, man quetschte, prügelte, verriegelte, wir hörten den Pfiff der Lok, spürten die Bewegungen Eisen
auf Eisen, fuhren, es war dunkel, draußen und zwischen uns, zwischen uns kroch die Dunkelheit umher, suchte die Finger, die Koffer, die Knochen, die Gedanken, das Ich, schloss
sich darum, einer Horde Affen gleich, stumm und geduckt
saßen wir im Käfig und lasen uns, kaum fiel etwas Licht durch Ritzen und Luken, die Läuse ab, sie übertrugen Flecktyphus, tödlich, die Sonne stand weit über dem Horizont, über unseren Horizont ging sie längst, der Zug ruckelte, bremste, hielt an.
Türen auf, Luft und Licht strömten wie Schläge auf uns ein, Patrouille SS: »Was tut
der große Junge da?« Sie
wollten Eustachius mitnehmen, obwohl er zu jung war, sogar Emil kontrollierten sie, er musste seinen Schuh ausziehen, mit vor Hoffnung glänzenden Augen blickte er zu den Schwarzuniformierten auf, als
sie fort waren, zitterte hinter ihnen die Luft, ich fand kein bekanntes Gesicht mehr unter
den Schals, wir waren alle
verändert, kannten uns nicht mehr, glichen einander nur stärker als zuvor
hatten ein Stück unserer Geschichte aus den Gesichtern verloren, als machten die Gesichter
sich leer, schlauer als wir, leer für die Geschichte
die nun begann, die große Flächen brauchte, viel vom Menschen, von uns, verbrauchte – für sich.
Emil neben mir, das Jingla, kroch in sich zurück. Die SS
hatte ihn verschmäht, er schwieg tagelang.