Es spricht: Jennifer

Stammbaum_01
Boris, den Ausdruck abgeklärter Geduld im Gesicht, den er sich während meiner Pubertät zugelegt hatte, schaute mich nur an. Müde und – vergnügt. Dann begann er zu reden, als wäre nichts, unversehens kam die ebenfalls abgebildete Grolmanntochter ins Spiel, er betrachtete das Foto eingehend, und seine Stimme wurde wärmer und wärmer, und je wärmer sie wurde, umso elender fühlte ich mich. Da war es, das ungeheuerlich starke und schmerzhafte Band. Seelenband! Haben das alle Kinder und Eltern zwischen sich? Mit 14 hatte ich es zum ersten Mal als etwas wahrgenommen, was eine grausame Macht, die sich nicht im Geringsten um mein Einverständnis scherte, mir als Kind eingepflanzt hatte, so dass das Band dick und stark an mein Herz gewachsen war. Ich hatte bis heute mit niemandem darüber gesprochen, nicht einmal mit Nascha. Mit 14einhalb glaubte ich, sowieso bald davon befreit zu sein, außerdem war es peinlich; mit 16 zeigte ich allen eine Harke und trainierte nur mehr Volleyball, mit 17 wuchs ich zehn Zentimeter und fraß, mit 18 wurde ich volljährig und nahm ab. Ich fühlte mich frei.
Und jetzt, nur ein paar Jahre später, mir nichts, dir nichts, war das Band wieder da, schwang und vibrierte in mir zwischen Hals und Bauch, als wäre es nie gelöst gewesen, und Vater zog daran. Er konnte das viel stärker als Mutter, was vielleicht kein Wunder war, denn Mutters Part hatte Oma Halka übernommen, solange sie lebte, Mutter hatte ich von meinen Familienmenschen am wenigsten gesehen. Fast wurde mir schwindelig, ich empfand das Vaterband als zu schmerzhaft und stark und zerrte dagegen, nicht, um es zu zerreißen, das konnte kein Mensch, das wusste ich inzwischen. Es gab nur eine Möglichkeit, dem Band zu entkommen: man musste ihm entgegeneilen und sich unter ihm durchducken. Im Training machten wir derartige Umkehrübungen, ›liebe den Boden, wenn du ihm entgegenfällst‹. Wie dies in der Wirklichkeit mit einem Vater gehen sollte, war mir rätselhaft, Boris hingegen schien es zu wissen, vorbehaltlos kam er mit seinen Worten auf mich zu, erzählte offen, breitete sein Herz aus, seine Träume von einem neuen Leben.
Wir saßen nebeneinander auf seiner Bettcouch, ich still bei ihm. Eine Weile beruhigten mich der vertraute Klang seiner Stimme, sein Geruch und seine Nähe, so dass ich nicht mehr auf den Sinn der Worte achtete, doch dann hörte ich zu und das schreckliche Gefühl beschlich mich, er sitze hier mit mir, um so zu tun, als habe sich nichts geändert und ändere sich auch in Zukunft nichts. Ich begriff, dass er nicht nur nie mehr zu Antonia zurückkehren, sondern auch nie mehr mein alter Vater sein würde, denn alles, was ich noch zu retten versucht hatte, hatte sich bereits geändert: er. Er war aufgebrochen und fortgegangen und ging mit jedem Wort einen Schritt weiter, und als ich das dachte und spürte, dass ich gleich würde weinen müssen, sprang ich auf und rannte davon.