Es spricht: Halka

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Ich erzählte niemandem von ihm, nicht einmal Mamuśka, die, kaum 40 Jahre alt, noch immer schön, zunehmend einem traurigen Esel glich. In Lemberg hatte man uns oft für Schwestern gehalten, in Wrocław kam niemand mehr auf diese Idee. Die rasch ergrauenden Haare zu beiden Seiten glatt und lieblos nach unten gekämmt, saß sie in unserem postdeutschen Ohrensessel, sagte »Halinka« und streichelte mir über die Wange, hielt in der anderen Hand den Rosenkranz. Ich versuchte, sie für die neue Stadt zu begeistern; sie bat mich, bei ihr zu bleiben und erzählte mir, die Möbel der Schönfließers stünden zwar jede Nacht reglos auf den Dielen und Parketthölzern, doch stöhnten sie. Sie höre es genau, sie bete und höre es, sie liege wach und fürchte sich, wir gälten hier als überzählig und fremd, es könne auch nicht Recht sein, der »Ersatz«, in dem wir lebten, sei nicht unschuldig, wir hätten Deutsche hier bei uns hocken, als hätten wir sie adoptiert, sie bete auch für sie, etwas, was sie nicht fassen könne, nicht erklären, was sie nicht wolle, tue ihr leid, der Priester verstehe ebenfalls nicht, was es sei.
»Karl, Mariella und Annegret.« Sie flüsterte, wurde lauter, rief: »Karl, Mariella, Annegret!«, und begann zu meinem Schrecken zu weinen.
Annegret Schönfließer, getauft im Mai 1942, wir hatten die Fotos gesehen, Annegret auf dem Schoß ihrer Mutter, Annegret, zweijährig, mit großer weißer Haarschleife. Der Vater in Uniform, der Vater in Zivil. Im Rahmen der Küchentür steckten Haken für eine Kinderschaukel. Den Namen »Schönfließer« sprach Mutter inzwischen fließend aus. Wie dünn die Eheleute sich auf dem Bild vom Sommer 1944 in der Hofecke aneinanderdrückten, dort, wo jetzt die Mülltonne stand. Wie jung und rund das Paar zehn Jahre zuvor gelächelt hatte, auf dem Hochzeitsfoto. Alles erkennbar, alles wie bei uns. Unsere Alben lagen bis auf eines in Lwów. Andere Menschen durchblätterten sie. Warfen sie weg? Lachten über uns? Uns steckte das Lachen im Hals.
Wir aßen vom blauen Schuppen- und Rankengeschirr der Schönfließers, lagen in Schönfließers weißen Leinen mit den blauen Monogrammen, umrankt von Schönfließers Träumen von einem glücklichen Schönfließer-Leben und der Form, die sie sich für dieses Leben ausgedacht hatten.
Die Kerzen der Schönfließers brannten für uns.
Die Taschentücher der Schönfließers lagen sauber gestapelt in unserer Kommode, die die Kommode der Schönfließers gewesen war. Mutter schnäuzte sich in eines davon.
»Karl, Mariella, Annegret.«
Die Schönfließers waren der Feind.
Der Feind sah seltsam aus. Wie ein Mensch.
Mutter sah fremd aus. Von einer großen ausländischen Traurigkeit bewohnt.
Auch ich spürte etwas davon. Die Stadt Lemberg war mit unserer Abfahrt versunken, für uns. Nun, nur ein paar Wochen später, begann ihr zweiter Untergang. Schon den äußeren hatten wir nicht gewollt, der innere vollzog sich gänzlich ohne Fremdeinwirkung unaufhaltbar und gegen unseren Willen in uns selbst.
Die Straßen und Häuser Lembergs verblassten. Es ging wie mit einem geliebten Gesicht: Man würde es unter Tausenden herauskennen, man vergaß es nie. Doch es beschreiben? Welche Eingangstür hatte unser Nachbarhaus, welche Farbe das dritte in der Straße links? Das an der Ecke war grün, Mutter sagte »gelb.«
Die Gesichter der Schönfließers hingegen blickten scharf und gestochen auf uns. Scharf und kalt schlossen die deutschen Wände uns ein und strahlten, Mutter hatte Recht, etwas Feindseliges aus.
Jeden Morgen nach dem Aufwachen schritt ich die Wohnung ab als müsste ich nach den Seelenzuständen ihrer neuen Bewohner sehen. Ich war wütend, wütend auf alle, die uns das angetan hatten und mir nun auch noch meine Mutter raubten, obwohl sie lebendig neben mir saß. Als Mamuś wieder einmal im Fotoalbum der Schönfließers blätterte, riss ich es ihr weg, zerriss die aufgeschlagene Seite, es traf die unschuldige Annegret, die nicht unschuldig war, hier war niemand unschuldig, »unschuldig« war eine zerbombte Kategorie, und schüttelte Grazyna, wütend nun auch auf sie, aber sie weinte nur wie ein Kleinkind, das man nicht schütteln soll.
Sie wurde eine weiche, zerflossene Frau.
Ich wusste von anderen, die ihr glichen. Wir saßen in einem Topf, genannt Bresław, wie Mäuse liefen wir darin umher, über den Rand spähten von allen Seiten die Russen herein. Ich begann mich dafür zu schämen, in welchen Zuständen ich Mutter antraf, und wenn ich mich ihrer nicht schämen wollte, ekelte ich mich vor ihr. Ich hatte Angst, selbst so zu werden, vielleicht saß ich deswegen so sehr auf der Treppe, stürzte mich weg.
Der Spiegel im Bad zeigte mir, dass mein Gesicht entschiedener aussah als vor Wochen. Was die fühlte, der es gehörte, wusste niemand. Sogar sie selbst musste es, wie die anderen, mit Hilfe dessen erraten, was sie tat.
Vater ließ sich einen Heinrich-Schliemann-Schnurrbart stehen. Er lebte in Troja, Mutter in Lemberg. Sie sprach vom Dritten Weltkrieg, wie man uns nach Hause schaffen werde, do domu, zum Ofen, bald. Leszeks Vorteil war, dass seine Stadt noch viel untergegangener war als Grazynas.
Wir schrieben Ende Juni. Ich wartete im Stiegenhaus auf jemanden, von dem ich nicht wusste, wer er war. Innerhalb weniger Wochen hatte ich beide Eltern verloren.