Es spricht: Boris

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Seine Wangen hatten sich gerötet. Als misslungener Krake stand er vor mir, vier schlenkernde Gliedmaßen, neun versteckte Gehirne. Und öffnete erneut den Mund. Und blickte mich lächelnd an. Lächelnd diesmal, nicht grinsend. Wenn ein Schwimmwettbewerb mit mir unmöglich sei, einen Luftanhaltekampf würden wir ja wohl hinbekommen!
Er breitete die Arme aus, als wolle er mich umarmen (wollte er, nur ahnte ich nicht, wie): kein Schwimmbadbesuch ohne Wettkampf. Kein Sport ohne ein Messen der Kräfte. Das sei seine déformation Nazi, sagte er. Darauf warte ich doch.
Die zeige er mir nun.
Ich müsse beim Luftanhalten nicht schwimmen. Ich könne und solle stehen!
Das habe sich jahraus, jahrein mit Emil bewährt. Ins Schwimmbad gehen. Geschwommen sei Emil wie ein Stein. Also gar nicht. Oder nur nach unten statt nach vorn. Ein Wettkampf sei nie möglich gewesen.
Eindringlich sah Eustachius mich an, bittend geradezu.
Ein Gazellengrüppchen zog an uns vorbei: langbeinig, wippende Oberkörper, wippende Haarschwänze. Stumm trabten wir der stark gestylten Mutter und ihren ebenso gestylten Töchtern hinterher. Das Sprudelbecken lag im Nichtschwimmerbereich. Auch hier fanden sich bodentiefe Fenster, vor ihnen ein paar frisch gepflanzte, blattlose Baumgebilde in hellbraun leuchtenden Holzkäfigen.
Das Wasser fühlte sich angenehmer an als erwartet, gefügig schloss es sich um meine Haut. Im Nichtschwimmerbecken tobte die Zwergengruppe, die Erzieherinnen ruhten wie bewährte Walrosse auf dem Kachelrand. Ein Vater hob sein vielleicht dreijähriges Mädchen aus dem Planschbassin und ließ es schreiend hinter sich herrennen, während er eilenden Schrittes davonging. Es gab so viele Möglichkeiten, Fehler zu machen.
Grolmann reichte das Wasser eine Handbreit über den Nabel, mir bis zur Brust.
»Also«, sagte er, »du weißt, wie das geht?«
Die Falten machten sein Gesicht milder; ich wiegte mich in Sicherheit. War ich an der Oder aufgewachsen oder nicht? Zwar konnte man in dem Fluss vor Dreck meist nicht baden, aber es hatte Schwimmhallen gegeben, andere Jungen, Wettbewerbe. Ich war ein leidenschaftlicher Springer gewesen, wagemutig aus Dummheit, weil ich sonst nichts konnte und weil ich gern gespürt hatte, wie mich das Wasser beim Eintauchen zusammendrückte.
Der hochgewachsene, zähe Mann vor mir pumpte Luft in seinen Brustkasten. Ich setzte ein ängstliches Gesicht auf, um ihn in die Irre zu führen. Er rauchte, er war alt, er würde verlieren. Stumm standen wir einander gegenüber, Grolmann zählte mit den Fingern von zehn rückwärts, damit wir uns synchronisierten. Ich würde mich hüten, beim letzten Atemzug meine Lungen übermäßig zu füllen; das taten nur Anfänger.
Wie Kampfhähne standen wir voreinander.
Und es tat gut.
Erstaunlich gut.
Das Kriegskind rief etwas wie »geschärft«, ich verstand es nicht genau. Ungünstig, seine Luft so zu verschwenden.
Schon trieben wir allein zu zweit in der grünblauen gurgelnden Unterwasserwelt. Wir hielten uns an der Leiter fest, jeder auf einer Seite. Grolmanns Rosen wackelten im Gesprudel.
Ich zählte. Bei zwei Minuten zwanzig dachte ich: maximal noch eine Minute, atmete ein bisschen ab, stoppte, genoss die Bewegungen des Wassers an meinem Gesicht. Ich schloss die Augen, spürte ein paar Sekunden später eine Berührung am Scheitel, wurde nach unten gedrückt, riss die Lider auf, sah etwas Helles unmittelbar vor mir, Grolmanns Bauch. Eine seiner Riesenhände umklammerte meine Schulter, die andere presste mich in die Tiefe. Wenn du dich wehrst, verlierst du, dachte ich noch, meine Luft schwand dahin, ich war wütend, entsetzt, stieß um mich, er konnte mich hier nicht vor aller Augen …, in einem öffentlichen Schwimmbad, das war ja ein Witz, ein Teil von mir lachte, eine Stimme höhnte, meine Ohren rauschten, das Wasser flimmerte, der Atemreflex wurde zu stark, ich schnappte nach Luft, sog Wasser in die Lungen, wollte nach oben, nur oben, etwas – ich? – strudelte, drehte, zwei Minuten Überlebenskampf, Krämpfe, Ende, keine Richtungen mehr, nur schwarz und fand – mich – wieder, hustend, an der Luft.
Schnappte, keuchte. Krümmte mich. Verwundert, dass ich nicht sofort von neuem unter Wasser kam.
Sondern drei vier fünf Atemzüge tun konnte. In aller Ruhe. Zitternd auf beiden Beinen stehend. Schwankend. Ganz für mich.
Den Schrecken in den Knochen.
Im Übrigen blind.
Es dauerte, bis mein Kopf aufhörte, sich zu drehen, das Rauschen in den Ohren nachließ. Der Wahnsinnige stand gute zwei Meter vor mir und beobachtete mich aufmerksam wie ein Adler, der lebende Beute ins Nest geschleppt hat.
Als Erstes hörte ich, was ich als Letztes halb gehört hatte: »Verschärfte Form!«
Er prustete fast so stark wie ich: »Ein Spaß.«
Sei das doch immer gewesen. Ob ich es nicht kenne? Wer meine zu gewinnen, drücke den anderen nach unten, um ihm das klarzumachen.
»Um ihn zu ertränken«, quetschte ich hervor.
Der Affenmann zeigte seine Zähne. »Um den Willen des Partners zu testen, seinen Mut«, sagte er mit mitleidigem Blick auf mich.
Grolmann aus seiner Höhe.
»Es beschleunigt den Kampf«, sagte er milder. Auch der Drücker verbrauche nun weit mehr Energie. Auch er bleibe unter Wasser! Wie der andere. Er habe nicht ahnen können, dass ich das nicht kenne.
Wobei er mich mit geradezu schamloser Inbrunst, mit herzerweichender Hilflosigkeit ansah: »Wir sind gleichzeitig aufgetaucht, Boris!«
Kleine Jungs machten solche Scherze. Vielleicht. Wir waren erwachsene Männer.
Worum ging es? Sollte ich seine Tochter in Ruhe lassen? Ihn?
Mir war heiß und schwindelig, ich setzte mich an den Beckenrand.
»Haben wir um etwas gewettet?« Meine Stimme klang heiser.
»Nein«, antwortete er leise.
Ich sagte nichts und erwiderte auch seine Blicke nicht, die ich sehr wohl fühlte. Nach einer Weile schlich er zu den Umkleiden davon. Ein »Entschuldigung« hatte er nicht über sich gebracht.
Eine Viertelstunde später sah ich ihn unter den Weglaternen Richtung U-Bahn gehen. Er trug die Elchmütze und stützte sich auf einen Regenschirm. Von hinten wirkte er zart, nahezu fragil. Wenn man ihn so beobachtete, konnte man kaum glauben, was sich soeben abgespielt hatte.
Wie starrsinnig er war. Bewundernswert. Solange man nicht gerade selbst dabei unterging.
Ich saß auf einer der Liegen, in mein gelbes Handtuch gewickelt. Mit einem Automaten-Kaffee in der Hand. Eustachius war ein Mensch, der keine Möglichkeit fand, seine Gefühle auf erwachsene Weise auszudrücken.
In seinem Gefängnis schlich er dahin.
Es hatte begonnen, leicht zu schneien.