Antonia Schnauber: Ihr Artikel „Der Schmerz der Nachgeborenen“

Sehr geehrte Frau Draesner,

mit Ihrem in der Zeit erschienenen Artikel „Der Schmerz der Nachgeborenen“ haben Sie ein Phänomen unserer Gesellschaft so eindrücklich beschrieben und auf den Punkt gebracht, dass ich nicht umhin kann, als Ihnen hiermit meinen Dank und meine tiefe Rührung auszudrücken. Die Geschichte Ihres Freundes „Sami“ hat mich sehr bewegt. Sie ist ein Zeugnis für die lebendige Präsenz der Vergangenheit inmitten ihrer Nachkommen und die tiefe Liebe von Kindern zu ihren Eltern, der kein Preis zu teuer ist. Bitte erlauben Sie, dass ich mich Ihnen vorstelle: Mein Name ist Antonia Schnauber und ich arbeite als Geschichtslehrerin an einem Düsseldorfer Gymnasium. Mit einem Kollegen leite ich seit einigen Jahren den Projektkurs „Erinnerungskultur“ an unserer Schule, in dem wir uns mit dem Erinnern, der deutschen Geschichte und der Erinnerungskultur beschäftigen. Teil dieses Kurses ist auch ein Austausch mit einer jüdisch israelischen Schülergruppe, mit der wir gemeinsam in Berlin Orte des Erinnerns aufsuchen und wie z.B. in Sachsenhausen eine gemeinsame Gedenkzeremonie abhalten. Ein Ziel des Kurses ist, dass die Schülerinnen und Schüler selber ein Stück Erinnerungskultur erschaffen. Das kann ein Gemälde sein oder eine wissenschaftliche Arbeit. Eine Schülerin hat im vergangenen Projektkurs eine außerordentliche Arbeit zum Thema „Weitergabe von Traumata“ geschrieben, in der sie neuere wissenschaftliche Erkenntnisse vorstellt, die belegen, dass sich Traumata, wie Krieg und Verfolgung auf die nachfolgenden Generationen vererben. Es werden Fälle beschrieben, in denen Menschen z.B. von Träumen berichteten, die eine so lebendige Erfahrung wiedergaben, die sie selber nie erlebt hatten, die aber, wie sich später herausstellte, von den Eltern erlebt jedoch nie erzählt worden war. Ihr Artikel erinnerte mich an diese Arbeit und diesen neuen Erkenntnissen.

Ich komme außerdem vom Theater und habe mit einem Pianisten in London das Musiktheaterstück „I am a stranger here myself“ inszeniert und in England und Deutschland aufgeführt. Es ist eine Art Erinnerungskulturstück und handelt von der Deutschen Marta, die um 1945 nach London kommt. Sie trifft auf den Pianisten Mark, der in den wilden Zwanzigern in Berlin in Cabarets und Bars Klavier gespielt hat. Sie führt die Zuschauer mit auf eine Reise durch die Zeit der goldenen und nicht so goldenen Zwanzigern, den Aufstieg des Nationalsozialistischen Regimes und den vielen deutsch-jüdischen Künstlern, die ins Exil gingen, wie Kurt Weill, dessen gesungene Lieder die Darstellung lebendig machen. Nach den Aufführungen (die letzten waren im Oktober 2014 in London) kommen stets Menschen zu mir, die mit leuchtenden Augen über das gerade Erlebte und Dargestellte, über diese Zeit, das Vergangene reden wollen. Sie erzählen von ihren Erfahrungen mit dem Thema und persönliche Schicksale, und es scheint so, als würde etwas wieder ganz, heil… gesund. […] Dazu ist es so wichtig, sich über die Auswirkung der Vergangenheit für das Hier und Heute, für uns bewusst zu machen. Das hat Ihr Artikel so eindrucksvoll geschildert. Ich danke Ihnen dafür.

Mit freundlichen Grüßen
Antonia Schnauber

(c) Antonia Schnauber, 2015

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In der Rubrik “Selbst-Erzählen” veröffentlichen wir Texte von Leserinnen und Lesern.