Dies ist Teil 3 des Essays zum Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt. Zu den vorhergehenden Teilen: Rendez-vous 1 und 2 sowie Recherche und Erfindung 1 und 2.
29. Mai 2012. Ich sitze in einem Appartement in der Ulica Więcienna in Wrocław. Kahles Treppenhaus, 4. Stock. Hinter den Sicherheitsschlössern öffnet sich der Blick auf den Turm der Elisabethkirche an der Nordwestecke des Ringes. Ich höre die Tonaufnahmen des Tages nach: das Polnisch der Zeitzeugen, das Deutsch der Dolmetscherin, der östliche Akzent, das Holpern hie und da beim Durchqueren der eigenen Erinnerung.
Ich fragte nach den Bedingungen der Flucht Richtung Westen, nach Breslau-Wrocław im Sommer 1945, nach Aufbruchsstimmung und Abenteuergefühl, Rückschlägen und Verlusten, nach politischen Konsequenzen, verordneten Lügen, nach Künsten des Nehmens, Vergessens und Sehens.
Ich hörte: spröde Berichte. Erklärungen. Emotionen, manchmal lange versunken, manche oft erzählt. Hörte von Verhaltensweisen, die die Betroffenen sich selbst nicht zu erklären wussten, nahm Gefühle in Versprechern der Erzählenden oder der Übersetzerin wahr. Ich betrachtete Gesichter, den Fall alter Wangen, dachte an meinen Vater, glaubte, Sprechweisen und Stockungen wiederzuerkennen. Schlesisches Himmelreich: ich erinnerte mich an die Sprachmelodie meiner Großeltern und ihrer Vertriebenenfreunde, ihren mir angenehmen, melodischen Duktus, „die andere Sprache“: die Karpengusche, das Weiche. Sah Spuren davon wieder, in einem polnischen Gesicht.
Gespräche, viele Stunden lang, Tag um Tag.
Im Vorfeld der Reise war mir klar geworden, dass ich, was Schlesien betraf, für lange Zeit unbewusst, jedenfalls unbedacht, die Haltung meiner Großeltern übernommen hatte: dieses Land war untergegangen. Jetzt kam ich in der Wirklichkeit an: Wrocław im Sommer 1945.
Auszüge aus Tagebüchern hatte ich noch zuhause gelesen:
„Es stimmt nicht, dass alle Ruinen in ihrem Ausdruck gleich sind. Ruinen bewahren immer den Charakter und die Individualität der lebenden Stadt. Das zerstörte Breslau ist bislang eine widerborstige und feindliche Stadt – besiegt, kraftlos, und doch weiterhin noch zu erobern. In den zerstörten Straßen, den kaputten Häusern quält sich irgendeine Suggestion einer schweren Lähmung, als seien all diese zerborstenen Mauern mit dem ganzen Gewicht für immer eingestürzt, selbstmörderisch, verzweifelt.“ (Maria Jarcyńska-Bukowska, 1946)
Bild: Viktoriastraße Breslau (ul.Lwowa), Mitte 1945 Foto Krysztyna Gorazdowska (c) Architekturmuseum Wroclaw