Teil 2 von Ulrike Draesners Essay zum Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“. Teil 1 finden Sie hier.
Sabine Bodes vor knapp zehn Jahren erstmals veröffentlichte Interviews mit Kriegskindern, Menschen der Jahrgänge 1930 bis Anfang der 40er Jahre, die die Zeit des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg mit all seinen Folgen als Kinder bzw. Jugendliche erlebten, halfen mir weiter. Vieles von dem, was ich las, erkannte ich wieder; Wege in die ebenfalls erst in den letzten beiden Jahrzehnten entwickelte Forschung zu Phänomenen transgenerationeller Übernahme von Traumata und zu Phänomenen wie postmemory öffneten sich.
Seit ich an dem Roman schrieb und manchmal von meinem Thema erzählte, hörte ich Geschichten von „seltsamen“ Träumen und Ängsten – Bilder im eigenen Kopf, die als fremd empfunden wurden. Sie stammten aus dem Leben eines Elternteiles. Offenbar werden nicht nur Gewohnheiten, Denk- und Emotionsmuster zwischen den Generationen weitergegeben. Studien zu Kindern traumatisierter Erwachsener sprechen von einem unbewussten „holding“ und „containing“, das Kinder ihren Eltern gewähren: sie spüren deren unaussprechbaren Schmerz, versuchen, die Erwachsenen zu halten und zu unterstützen, ja, „beherbergen“ sie in sich, erleben „an Stelle“, werden als Selbstobjekte funktionalisiert.
Familiäre Weitergabe: zart und brutal.
Verschiebungen des Gedächtnisses, der Psyche, der Seele. Schraffuren (auch) der Sprache. Menschen, denen „es“ den Rahmen verzogen hat. „Es“, das Geschehen – und die innere Beteiligung daran. „Es“: Die Übermacht von außen (gezwungen, bedroht, verfolgt, ausgesetzt) – und die Fragen danach, woher „es“ kam.
Wie, fragte ich mich, sollte es möglich sein, davon zu erzählen?
Irgendwann – seltsames „irgendwann“, wenn ich versuche, mich an Schreibspuren zu erinnern –, fand ich die Lösung. Ich musste einen multi-logischen Roman schreiben. Multi-logisch in der doppelten Bedeutung des Wortes: verschiedenen Lebenswahrheiten folgend, von verschiedenen Seiten her gesprochen.
Als ich las, wie von Ostpolen nach Schlesien vertriebene Polen ihre Erlebnisse sowie ihr Leben nach der sogenannten „Heimkehr“ schilderten, löste sich der Knoten. Die Idee für die Form des Romans kam aus dem Material. Da lebten Menschen aus Lemberg in dem von Deutschen geräumten Wrocław und sehnten sich in die Heimat zurück, mit Bildern, Schmerzen und Liebesgefühlen ähnlich jenen, mit denen Flüchtlinge aus Breslau im Westen saßen und in den verlorenen Osten blickten. Überraschender und stärker als die Unterschiede zwischen diesen Menschen waren die Spiegelungen. Die Auswirkungen des Heimat- und damit häufig verbundenen Familienverlustes; die induzierte äußere wie innere Verzogenheit.
Das Thema trifft uns und unsere Nachbarn. Erzählbar wurde es durch eine Kreuzung: im Roman bewegen sich eine polnische und eine deutsche Familie hintereinander her nach Westen, verfolgen sich, ohne sich zu kennen. In einer späteren Generation schneiden sich ihre Wege; bei ihren Kindern führen sie wieder auseinander.
Sowohl bei deutschen wie bei polnischen Zeitzeugen fand ich Spaltungen, Gedanken- und Gefühlsfluchten in nostalgische Vergangenheitsräume, die Weitergabe des Gefühls, selbst falsch zu sein. Ich hörte und las von Verlusten und Abenteuerlust, Aufbruchsnöten und Untergängen, von der Zerschlagung eines kulturell und sprachlich gemischten Raumes, begegnete Leugnung und Sehnsucht, Lüge und Mimikry.
Seltsam distanziert, von Unterbrechungen heimgesucht, durchzogen von Wutausbrüchen, Ängsten, Träumen von Sicherheit.
Noch einmal versuchte ich, mich vor dem Roman in Sicherheit zu bringen. Ich wiederholte die Geste meines Vaters: ich floh vor der Flucht – und unterschrieb einen Verlagsvertrag für einen anderen Roman.
Als ich versuchte, ihn zu schreiben, kam Lilly wieder hervor. Setzte sich auf meinen Schreibtisch, erhob die Stimme. Diesmal hatte sie Emil mitgebracht. Meinen behinderten Onkel, Vaters Bruder, durch die Nazizeit gerettet, auf der Flucht ums Leben gekommen.
Ich gab auf.
Sie waren in der Überzahl, waren stärker als ich.
Im Mai 2012 reiste ich nach Polen.