Dies ist Teil 2.2 des Essays zum Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt. Zu den vorhergehenden Teilen: Rendez-vous 1 und 2 sowie Recherche und Erfindung 1
(Polski: Breslau 1945. Übersetzung von Karolina Kuszyk)
Breslau 1945 – Recherche und Erfindung 3 (Essay, Teil 2)
Ich bin acht oder neun Jahre alt, stehe im Wohnzimmer meiner Großeltern, Vater und Opa unterhalten sich.
Was ein Fest ist, weiß ich wohl. Doch eine Festung?
Der Buchumschlag, auf dem das Wort steht, verheißt nichts Gutes.
Das bei Gräfe und Unzer Ende der 50 Jahre erschienene Buch der Generäle von Ahlfen und Niehoff steht bei meinem Vater im Bücherregal. Ich leihe es mir aus. Auf dem Vorsatzblatt ist in der Handschrift meiner Großmutter „Weihnachten 1959“ zu lesen. Ein Lesezeichen liegt bei, gemacht und beschrieben von meinem Großvater, adressiert an meinen Vater, Weihnachten 1962. Damals war ich elf Monate alt.
In der Szene, an die ich mich erinnere, hält mein Großvater das Buch der Generäle von Ahlfen und Niehoff in der Hand und spricht auf meinen Vater ein. Doch ich höre nichts, nur die Gesichter sehe ich, ernst, betreten, bittend, verschattet. Oder ist diese Erinnerung erfunden: auf dem Grund dessen, was ich vielfach erlebte, was ich immer wieder unterbrach, wenn ich, das Kind, hinzutrat? Was als Atmosphäre im Raum stand, wortlos verhandelt wurde?
Ich lehne gegen den braungrau geblümten Stoffbezug des Großelternsessels. Cord. Mutter und Oma sind in der Küche. Großvater riecht gemütlicher als Vater. Man vergisst mich oder scheint mich vergessen zu haben.
Opa spricht leiser als sonst, ernst. In „diesem“ Ton. Ohne „die Frauen“. Mein Vater und mein Großvater sind miteinander beschäftigt, oder, denke ich heute, ein jeder ist beschäftigt mit sich.
Das Buch von Ahlfens und Niehoffs ist ein als Bericht getarntes Propaganda- und Rechtfertigungsstück. Hans von Ahlen kommandierte die Festung Breslau von 1.2.45 bis zum 8.3., Hermann Niehoff vom 9.3. bis zur Kapitulation am 6.5.1945. Mein Großvater. Jahrgang 1892, war Mitte Januar zum Volkssturm einberufen worden. Zwei Wochen später „rückte“ er in die Festung ein, sprich: nach zwei Tagen Flucht allein durch Wald und Schnee erreichte er die ihn zunächst rettende Stadt. Sein Buchexemplar ist voller Bleistiftanmerkungen; Zeitungsausschnitte wölben den Umschlag. Am Ende hat er einen maschinengeschriebenen Kommentar, datiert auf den 18.1.1960, eingeklebt. Darin vergleicht er die Darstellung der Generäle mit der eigenen Erinnerung. Er spricht von „hervorragenden Soldaten“ und von Verbrechern. Von Mord, einerseits. Betont andererseits die eigene Kampfesleistung.
Militärische Rechtfertigungen über 1945 hinaus. Ich spüre etwas vom Klima der Bundesrepublik der späten 50er Jahre, den versteckten Kampf um Selbstwert, die Selbstversicherung im kleinen Kreis.
Breslau war, das wird deutlich, als Waffe begriffen worden. „Material“ gleichgültig, „Mensch“ keine Kategorie. Die Stadt ein auf den Boden geworfener, dabei umgekippter Helm. Nach oben geöffnet. Welch Fehler.
Konnte ich Großvaters Fragen oder Schmerzen in den Krakeln am Rand der Seiten sehen? Seine Suche nach Antworten, die er nicht fand?
Ich begann neu nachzudenken. Die Kategorien „Kampfesehre“ und „Kameradschaft“ waren mir fremd. Deutlich erinnerte ich mich an das Glänzen in den Augen meines Großvaters, wenn er von Kriegskameraden, von Briefen oder gar einem Wiedersehen berichtete. An mein Gefühl, dass er aus diesen Begegnungen mit mir vollkommen fremden Menschen lebte.
Er, der als Monarchist und Vater eines behinderten Kindes Abstand von den Nationalsozialisten gehalten hatte. Der von August 1939 bis zum Herbst 1944 elf Mal in die Wehrmacht eingezogen und an die Front gestellt worden war. Der – ich-weiß-nicht-was gesehen und gewusst hatte. Der, nachdem er die sowjetische Kriegsgefangenschaft überstanden hatte und „sicher“ in Bayern angekommen war, versucht hatte, sich umzubringen.
Aber – zum wievielten Mal in seinem Leben? – gerettet worden war.
Spät entstand das Kapitel, in dem ich Hannes, den „Großvater“ im Roman, darüber sprechen lassen kann, was er „die irre Schönheit“ nennt „des Lebens im Krieg“.